Der Historiker
dreihundert Dollar gekostet herauszufinden, dass dieses Buch einst in einer Umgebung gestanden haben muss, die voller Steinstaub war, wahrscheinlich noch vor siebzehnhundert. Am Ende bin ich bis nach Istanbul gefahren, um mehr über seinen Ursprung herauszufinden. Das Merkwürdigste von allem aber ist die Art, wie ich an dieses Buch gekommen bin.« Er streckte die Hand aus, und ich war froh, ihm den alten, fragilen Band zurückgeben zu können.
»Haben Sie es irgendwo gekauft?«
»Ich fand es auf meinem Tisch, als ich an meiner Doktorarbeit saß.«
Ein Zittern erfasste mich. »Ihrem Schreibtisch?«
»Meinem Tisch in der Bibliothek. Wir hatten auch Arbeitskojen. Die hatte man schon in den Klöstern des siebten Jahrhunderts, müssen Sie wissen.«
»Woher hatten Sie… Woher kam es? War es ein Geschenk?«
»Vielleicht.« Rossi lächelte seltsam. Er schien mit einem schwer bezähmbaren Gefühl zu kämpfen. »Möchten Sie noch eine Tasse?«
»Ja, bitte, nach alldem«, sagte ich mit trockener Kehle.
»Meine Bemühungen, seinen Besitzer zu finden, schlugen fehl, und die Bibliothek vermochte das Buch auch nicht zu identifizieren. Selbst die British Library hatte so etwas noch nicht gesehen und bot mir eine beträchtliche Summe dafür.«
»Aber Sie wollten es nicht verkaufen.«
»Nein. Ich mag Rätsel, wie Sie wissen. Jeder Gelehrte, der sein Geld wert ist, mag welche. Das ist die Belohnung unseres Geschäfts – der Geschichte ins Auge zu blicken und zu sagen: Ich weiß, wer du bist. Mich führst du nicht an der Nase herum.«
»Was ist es also nun? Denken Sie, dieses große Exemplar wurde vom selben Drucker zur selben Zeit hergestellt?«
Seine Finger trommelten auf die Fensterbank. »Ich habe mich seit Jahren nicht mehr wirklich damit beschäftigt, wenigstens habe ich versucht, es nicht zu tun, obwohl ich es immer… spüre, da, über der Schulter.« Er machte eine Geste hinauf zu der Lücke zwischen den übrigen Büchern. »Auf dem obersten Brett dort stehen meine Misserfolge aufgereiht. Und Dinge, über die ich am liebsten nicht weiter nachdenke.«
»Nun, jetzt, wo ich einen Kameraden für Ihr Buch gefunden habe, können Sie die Dinge vielleicht besser verorten. Die beiden müssen miteinander zu tun haben.«
Die beiden müssen miteinander zu tun haben. Es war ein hohl klingendes Echo, auch wenn es durch den Duft frischen Kaffees zu mir drang.
Ungeduld und ein leicht fiebriges Gefühl, das ich in jenen Tagen wegen zu wenig Schlaf und geistiger Überreizung öfter verspürte, ließen mich weiter in ihn dringen. »Und Ihre Nachforschungen? Nicht nur die chemische Analyse. Sie sagten, Sie hätten noch andere Dinge herausgefunden…?«
»Noch andere Dinge.« Mit seinen tüchtig wirkenden Händen umschloss er die zarte Kaffeetasse. »Ich fürchte, ich schulde Ihnen mehr als nur eine Geschichte«, sagte er leise. »Vielleicht ist es eher eine Art Entschuldigung – Sie werden noch verstehen, was ich meine –, obwohl ich keinem meiner Studenten je bewusst ein solches Erbe wünschen möchte. Wenigstens den meisten von ihnen nicht.« Er lächelte gütig, aber auch traurig, wie ich dachte. »Sie haben von Vlad Tepes gehört, dem Pfähler?«
»Ja, Dracula. Ein Feudalherr in den Karpaten, im Übrigen bekannt durch Bêla Lugosi.«
»Genau der – oder einer von ihnen. Es war ein altes ehrenhaftes Geschlecht, bis dieser äußerst unangenehme Spross an die Macht kam. Haben Sie ihn auf Ihrem Weg aus der Bibliothek nachgeschlagen? Ja? Ein schlechtes Zeichen. Als mein Buch an jenem Nachmittag auf so seltsame Weise auftauchte, habe ich das Wort auch nachgeschlagen, Drakulya, den Namen – genauso wie Transsilvanien, Walachei und Karpaten. Ich war gleich gepackt.«
Ich fragte mich, ob das ein verborgenes Kompliment war. Rossi mochte es, wenn seine Studenten nichts unbeantwortet ließen, aber ich sagte nichts weiter dazu, weil ich fürchtete, seine Erzählung mit einem unpassenden Kommentar zu unterbrechen.
»So, die Karpaten. Das war immer schon ein mystischer Ort für Historiker. Einer von Occams Schülern reiste dorthin – auf einem Esel, nehme ich an – und produzierte auf Grund seiner Erfahrungen eine komische kleine Sache, die er Die Philosophie des Ehrfurchtgebietenden nannte. Natürlich ist Draculas Geschichte schon viele Male zerpflückt worden, und es gibt nicht mehr viel, das sich noch erkunden ließe. Er war ein walachischer Fürst, ein Herrscher des fünfzehnten Jahrhunderts, gleichermaßen gehasst vom
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