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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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Stapel holländischer Magazine. Während draußen die Altstadt und dann die kleinen grünen Vororte vorbeizogen, machte ich es mir in meiner Ecke bequem und faltete noch einmal den ersten Brief von meinem Vater auf. Die ersten Zeilen kannte ich bereits auswendig, die erschreckende Form der Buchstaben, das überraschende Datum und den Ort, die dringliche, feste Handschrift.
     
    Meine liebe Tochter,
    vergib mir, wenn du dieses liest. Ich habe mich auf die Suche nach deiner Mutter gemacht. Viele Jahre lang habe ich geglaubt, dass sie tot sei, und jetzt bin ich mir dessen nicht mehr sicher. Diese Unsicherheit ist fast noch schlimmer als Trauer, wie du eines Tages vielleicht verstehen wirst. Tag und Nacht quält sie mein Herz. Ich habe dir nie viel von deiner Mutter erzählt, und das war eine Schwäche von mir, ich weiß, aber unsere Geschichte war zu schmerzvoll, um sie dir einfach so erzählen zu können. Ich habe immer vorgehabt, dir mehr darüber zu berichten, wenn du älter wärst und es besser verstehen würdest, ohne zu Tode zu erschrecken – obwohl, um der Wahrheit die Ehre zu geben, ich bin selbst so voller Furcht, die kein Ende kennt, dass ich das nur als eine meiner ärmlichsten Entschuldigungen vor mir selbst betrachten kann.
    Während der letzten Monate habe ich meine Schwäche dadurch auszugleichen versucht, dass ich dir Stück für Stück über meine Vergangenheit erzählt habe, was ich konnte, wobei ich deine Mutter nach und nach mit in die Geschichte hineinbringen wollte, obwohl sie ziemlich plötzlich in mein Leben trat. Jetzt fürchte ich, dass ich es nicht schaffen werde, dir alles über dein Erbe zu erzählen, was du darüber wissen solltest, bevor ich entweder zum Schweigen gebracht werde und dich tatsächlich nicht mehr aufklären kann oder erneut meinem eigenen Schweigen zum Opfer falle.
    Ich habe dir einiges aus meinem Leben als Doktorand erzählt, vor deiner Geburt, und auch von den merkwürdigen Umständen, unter denen mein Doktorvater verschwand, nachdem er mir seine Eröffnungen gemacht hatte. Darüber hinaus weißt du, dass ich damals eine junge Frau namens Helen traf, die ein ebenso großes Interesse wie ich daran hatte, Professor Rossi zu finden, vielleicht ein noch größeres. Bei jeder ruhigen Gelegenheit habe ich versucht, dir diese Geschichte ein Stück näher zu bringen, aber jetzt habe ich das Gefühl, ich sollte den Rest aufschreiben und auf diese Weise sicher dokumentieren. Wenn du dies nun lesen musst, statt mir zuhören zu können, dann tue es irgendwo auf einem felsigen Berggipfel, einer ruhigen Piazza, setze dich an einem geschützt liegenden Hafen oder einen bequemen Kaffeehaustisch. Ich hätte dir schneller schon mehr erzählen sollen.
    Während ich dies schreibe, sehe ich auf die Lichter eines alten Hafens hinaus, und du schläfst ruhig und unschuldig im Zimmer nebenan. Der Tag hat mich müde gemacht, und der Gedanke, nun diese lange Erzählung zu beginnen, trägt zu meiner Müdigkeit noch bei. Es ist eine traurige Pflicht, eine unglückliche Vorsichtsmaßnahme. Ich nehme an, ich habe noch einige Wochen, möglicherweise Monate, um dir persönlich mehr zu erzählen, und ich will hier nicht noch einmal zusammentragen, was ich dir auf unseren Reisen in so viele Länder längst berichtet haben werde. Was die Zeit danach angeht – nach diesen Wochen oder Monaten –, bin ich weniger sicher. Im schlimmsten Fall wirst du mein Haus erben, mein Geld, das Mobiliar und die Bücher, aber ich kann mir leicht vorstellen, dass dir diese Dokumente wertvoller sein werden als alles andere, denn sie enthalten deine Geschichte – die Geschichte deiner Herkunft.
    Warum habe ich dir diese Dinge nicht auf einen Schlag erzählt, um es hinter mich zu bringen und dich in alles einzuweihen? Die Antwort liegt wieder einmal in meiner Schwäche, aber auch in der Tatsache, dass eine verkürzte Fassung ein ziemlicher Schlag für dich gewesen wäre, und ich kann dir unmöglich einen solchen Schmerz wünschen, wenn er auch nur ein Bruchteil meines Schmerzes wäre. Im Übrigen würdest du mir vielleicht nicht glauben, wenn ich dir alles auf einmal erzählte, genau wie ich die Geschichte meines Mentors Rossi nicht glauben konnte, ohne seine Erinnerungen Schritt für Schritt nachzuvollziehen. Und welche Geschichte lässt sich am Ende überhaupt auf ihre ›faktischen Elemente‹ reduzieren? Deshalb will ich dir alles nach und nach erzählen. Dabei muss ich eine Schätzung wagen, wie viel ich dir bereits

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