Der Historiker
erzählt haben mag, wenn diese Briefe in deine Hände fallen.
Mein Vater hatte nicht ganz genau geschätzt und die Geschichte an einer Stelle aufgenommen, die ein paar Schritte hinter dem lag, was ich bereits kannte. So würde ich womöglich niemals hören, wie er auf Helen Rossis erstaunlichen Entschluss reagiert hatte, mit ihm auf die Reise zu gehen, dachte ich traurig, oder was alles auf der Reise von Neuengland nach Istanbul passiert war. Wie, fragte ich mich, hatten sie es geschafft, den notwendigen Papierkram zu erledigen, die Hürden politischer Gegensätze zu nehmen, Visumszwänge und Zollbestimmungen zu erfüllen? Hatte mein Vater seinen Eltern – gutherzigen, vernünftigen Bostonern – etwas über seine plötzlichen Reisepläne vorgeschwindelt? Waren er und Helen sofort nach New York gefahren, wie sie es geplant hatten? Hatten sie im selben Hotelzimmer geschlafen? Mein heranreifendes Ich vermochte dieses Rätsel weder zu lösen noch aus seinem Denken zu verbannen. Ich musste mir irgendein Bild von den beiden machen: Mein Vater und Helen Rossi als Helden in einem Film über ihre frühen Jahre. Helen diskret unter der Decke eines Doppelbetts ausgestreckt, mein Vater ungemütlich in einem Ohrensessel schlafend, die Schuhe, aber sonst nichts ausgezogen, und von draußen blinken die Lichter des Times Square eine schmutzige Einladung herein.
»Sechs Tage nach Rossis Verschwinden flogen wir am nebligen Abend eines Werktags vom Idlewild Airport nach Istanbul, mit Station in Frankfurt. Unser zweites Flugzeug landete morgens, und zusammen mit allen anderen Touristen wurden wir ins Freie getrieben. Ich war zweimal in Westeuropa gewesen, aber dieser Ausflug kam mir wie die Exkursion auf einen anderen Planeten vor. Die Türkei war 1954 tatsächlich eine andere Welt, viel mehr, als sie es auch heute noch ist. Eben noch hatte ich auf meinem unbequemen Flugzeugsitz gehockt und mir das Gesicht mit einem heißen, feuchten Tuch abgewischt, und schon standen wir draußen auf ebenso heißem Teer, und Staub und unvertraute Gerüche wehten über uns hin, dazu das flatternde Kopftuch eines Arabers vor mir, das mir immer wieder gegen den Mund schlug. Helen neben mir lachte, als sie mein Erstaunen über all das sah. Sie hatte sich im Flugzeug die Haare gebürstet, frischen Lippenstift aufgetragen und sah bemerkenswert frisch aus nach unserer wenig komfortablen Nacht. Sie trug wie immer ihr kleines Tuch um den Hals. ›Willkommen in der großen Welt, Yankee‹, sagte sie lächelnd. Es war ein wirkliches Lächeln, nicht ihr gewohntes Grinsen.
Während der Taxifahrt in die Stadt wuchs mein Erstaunen noch. Ich weiß nicht genau, was ich von Istanbul erwartet hatte – nichts vielleicht, da so wenig Zeit gewesen war, mich auf die Reise vorzubereiten –, aber die Schönheit dieser Stadt nahm mir den Atem. Es war ein Ort wie aus Tausendundeiner Nacht, und auch noch so viele hupende Autos und Geschäftsleute in westlichen Anzügen vermochten diesen Eindruck nicht zu zerstören. Die frühere Stadt, Konstantinopel, Hauptstadt des Byzantinischen Reiches und Hauptstadt des christlichen Römischen Reiches, muss von einer unglaublichen Herrlichkeit gewesen sein, dachte ich, eine Verbindung von römischem Reichtum und frühchristlichem Mystizismus. Bis wir schließlich Zimmer im historischen Viertel Sultanahmet fanden, hatte ich betörende Blicke auf Dutzende Moscheen und Minarette werfen können, auf Basare voller feiner Stoffe und sogar auf die viel kuppelige, vierspitzige Hagia Sophia, die sich über der Halbinsel wölbte.
Helen war auch noch nie hier gewesen, und sie studierte alles schweigend, konzentriert. Nur einmal wandte sie sich mir während unserer Taxifahrt zu, um zu bemerken, wie seltsam es für sie sei, die Keimzelle – ich glaube, so drückte sie sich aus – des Osmanischen Reiches zu sehen, das so viele Spuren in ihrer Heimat zurückgelassen habe. Das sollte ein Thema unserer Tage dort werden, das sich in knappen, bestimmten Bemerkungen über das niederschlug, was ihr bereits vertraut war: türkische Ortsnamen, ein in einem Straßenrestaurant eingenommener Jogurt mit Gurken, der spitze Bogen eines Fensterrahmens. Für mich führte das merkwürdigerweise dazu, dass ich eine Art Doppelerfahrung machte, da ich gleichzeitig Istanbul und Rumänien kennen zu lernen schien, und während sich nach und nach die Frage zwischen uns erhob, ob wir auch nach Rumänien fahren müssten, hatte ich das Gefühl, durch Helens Bemerkungen
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