Der Historiker
über uns, und bildete den byzantinischen Kosmos ab. Ich konnte kaum glauben, hier zu sein. Ich war fassungslos.
Plötzlich, in diesem byzantinischen Bauwerk, einem der größten Wunder der Geschichte, sprengte mein Geist alle Beschränkung. Mir wurde klar, dass ich, was immer geschehen würde, niemals in die alte Enge von Büchern und Universitätswirklichkeit würde zurückkehren können. Ich wollte dem Leben in die Höhe folgen und ihm das Oben und Außen hinzufügen, so wie sich dieser enorme Raum nach oben und außen wölbte. Mein Herz weitete sich, wie es das nie bei meinen Wanderungen unter holländischen Kaufleuten getan hatte.
Ich sah Helen an, die ähnlich bewegt war. Sie hielt den Kopf zurückgelegt, wie ich es getan hatte, ihre schwarzen Locken fielen ihr über den Kragen der Bluse, und ihr gewöhnlich kontrolliertes und fast zynisches Gesicht war von einer blassen Transzendenz. Unwillkürlich fasste ich ihre Hand. Ihr Griff war fest, fast knochig, so wie ich es vom Händeschütteln kannte. Bei einer anderen Frau hätte das eine Geste der Unterwerfung oder Koketterie sein können, ein romantisches Sichfügen; bei Helen war es eine so einfache und bestimmte Geste wie ihr Blick und die Unnahbarkeit ihrer Haltung. Einen Moment später schon schien sie sich zurückzurufen, ließ ohne jede Verlegenheit meine Hand wieder los, und gemeinsam setzten wir unseren Gang durch die Kirche fort und bewunderten die Kanzel und den glänzenden byzantinischen Marmor. Es kostete mich ziemliche Mühe, mir in Erinnerung zu rufen, dass wir während unseres Aufenthalts in Istanbul jederzeit hierher zurückkehren konnten, und unsere wichtigste Aufgabe zunächst darin bestand, das Archiv zu finden. Helen musste wohl das Gleiche gedacht haben, denn sie folgte mir zurück zum Eingang, und wir drängten uns durch die Menschen hinaus auf die Straße.
›Das Archiv könnte ziemlich weit weg sein‹, meinte sie. ›Die Hagia Sophia ist so groß, dass man sie von fast jedem Ort in diesem Teil der Stadt sehen kann, womöglich sogar von der anderen Seite des Bosporus.‹
›Ich weiß. Wir brauchen einen weiteren Anhaltspunkt. In den Briefen heißt es, dass das Archivgebäude an eine kleine Moschee aus dem siebzehnten Jahrhundert angebaut ist.‹
›Die Stadt ist voller Moscheen.‹
›Stimmt.‹ Ich blätterte meinen eilig gekauften Reiseführer durch. ›Fangen wir hiermit an: der Großen Moschee der Sultane. Mehmed II. und sein Hof könnten da manchmal gebetet haben. Sie stammt aus dem fünfzehnten Jahrhundert – und damit wäre logisch, dass sich auch Mehmeds Bibliothek in ihrer Nachbarschaft befindet, meinst du nicht?‹
Helen dachte, es sei den Versuch wert, und wir machten uns auf den Weg. Unterwegs sah ich wieder in meinen Fremdenführer. ›Hör dir das an: Istanbul ist ein byzantinisches Wort, das die Stadt bedeutet. Selbst die Osmanen konnten Konstantinopel nicht zerstören, nur den Namen ändern – in einen byzantinischen noch dazu. Hier heißt es, das Byzantinische Reich bestand von 333 bis 1453. Mach dir das mal klar – von welcher unglaublichen Dauer dieses Imperium war.‹
Helen nickte. ›Dieser Teil der Welt ist ohne Byzanz nicht denkbar‹, sagte sie ernst. ›Auf dem Balkan findest du überall Spuren – in Kirchen, Klöstern, auf Fresken, sogar in den Gesichtern der Menschen. In mancher Hinsicht ist es da noch augenfälliger als hier, mit all dem osmanischen Bodensatz.‹ Ihre Miene umwölkte sich. ›Die Eroberung Konstantinopels 1453 durch Mehmed II. war eine der größten Tragödien der Geschichte. Mit seinen Kanonen zerstörte er die Mauern, und dann schickte er seine Truppen für drei Tage zum Plündern und Morden in die Stadt. Die Soldaten vergewaltigten junge Frauen und Männer auf den Altären der Kirchen, auch in der Hagia Sophia. Sie stahlen Ikonen und die heiligen Schätze, um das Gold einzuschmelzen; die Reliquien warfen sie den Straßenhunden vor. Davor war das hier die schönste Stadt der Geschichte.‹ Ihre Hand schloss sich zur Faust.
Ich schwieg. Die Stadt war immer noch schön, mit ihren zarten, satten Farben, den prächtigen Kuppeln und Minaretten, ganz gleich, welche Gräuel sich hier vor langer Zeit zugetragen hatten. Ich konnte durchaus sehen, warum dieses schlimme Ereignis vor fünfhundert Jahren für Helen so real war, aber was hatte das tatsächlich mit unserem Problem heute zu tun? Plötzlich kam mir der Gedanke, dass ich den langen Weg hierher womöglich ohne Grund gemacht hatte
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