Der Historiker
bereits ein Stück weit dorthin gekommen zu sein. Aber ich schweife ab – das gehört zu einem späteren Teil meiner Geschichte.
Nach dem Gleißen der Sonne und dem Staub der Straße wirkte die Eingangshalle unserer Pension kühl. Dankbar sank ich in einen Sessel, der dort stand, und ließ Helen in ihrem ausgezeichneten, aber ungewohnt akzentuierten Französisch zwei Zimmer buchen. Die Vermieterin, eine Armenierin, die Reisende mochte und offenbar von ihnen etliche Sprachen gelernt hatte, kannte den Namen von Rossis Hotel nicht. Vielleicht existierte es längst nicht mehr.
Helen nahm die Dinge gern in die Hand, überlegte ich, warum sollte ich ihr also nicht diese Genugtuung geben? Wobei die so unausgesprochene wie klare Abmachung zwischen uns bestand, dass ich später die Rechnung übernähme. Ich hatte sämtliche Ersparnisse von meinem Konto abgehoben. Rossi verdiente jede Anstrengung, die ich unternehmen konnte, auch wenn ich am Ende keinen Erfolg haben sollte. Wenn es so weit kam, würde ich eben bankrott wieder nach Hause fliegen. Ich wusste, dass Helen als ausländische Studentin wahrscheinlich weniger als nichts hatte, wovon sie leben musste. Mir war bereits aufgefallen, dass sie genau zwei Kostüme zu besitzen schien, die sie mit einer Auswahl einfach geschneiderter Blusen kombinierte. ›Ja, wir hätten gern zwei getrennte Zimmer nebeneinander‹, erklärte sie der Armenierin, einer alten Frau mit fein geschnittenem Gesicht. ›Mein Bruder… mon frère… ronfle terriblement.‹
›Ronfle?‹, fragte ich aus meinem Sessel.
›Schnarcht‹, sagte sie. ›Du schnarchst wirklich, weißt du. Ich habe in New York kein Auge geschlossen.‹
›Zugetan‹, verbesserte ich sie.
›Schön‹, sagte sie. ›Halt einfach die Tür, s’il te plaît.‹
Schnarchen hin oder her, wir mussten uns zunächst einmal von der Reise erholen, bevor wir etwas anderes unternehmen konnten. Helen wollte sich gleich auf die Suche nach dem Archiv machen, aber ich bestand darauf, erst auszuruhen und etwas zu essen. So war es bereits später Nachmittag, als wir uns auf unseren ersten Streifzug durch das Labyrinth von Straßen machten, die vielfältige Einblicke in farbenfrohe Gärten und Innenhöfe boten.
Rossi hatte das Archiv in seinen Briefen nicht näher benannt, und in unserer Unterhaltung hatte er auch nur von einer wenig bekannten Sammlung von Dokumenten aus der Zeit Sultan Mehmeds II. gesprochen. Seine Briefe fügten dem hinzu, dass es in einem Anbau an einer Moschee aus dem siebzehnten Jahrhundert untergebracht war. Darüber hinaus wussten wir, dass er von einem Fenster aus die Hagia Sophia hatte sehen können, dass es mehr als eine Etage gab und vom Erdgeschoss eine Tür direkt auf die Straße ging. Ich hatte vor unserer Abreise in unserer Universitätsbibliothek vorsichtig nach Informationen über ein solches Archiv gesucht, aber ohne Erfolg. Ich fragte mich, warum Rossi in seinen Briefen den Namen des Archivs nicht genannt hatte. Es war eigentlich nicht seine Art, ein solches Detail auszulassen, aber vielleicht hatte er sich nicht daran erinnern wollen. Ich trug all seine Briefe in meiner Aktentasche bei mir, einschließlich der Liste der Dokumente, die er dort gefunden hatte, mit der sonderbar mageren Angabe am Ende: ›Bibliografie, Drachenorden‹.
Die ganze Stadt, diesen Irrgarten aus Minaretten und Kuppeln, nach dem Anlass für diese kryptische Zeile in Rossis Handschrift durchsuchen zu müssen, diese Vorstellung machte mir, um es vorsichtig auszudrücken, nicht gerade Mut.
Das Einzige, was wir tun konnten, war, unsere Schritte auf den einen Orientierungspunkt auszurichten, den wir hatten: die Hagia Sophia, ursprünglich die große byzantinische Kirche der heiligen Sophia. Und als wir uns ihr näherten, war es uns unmöglich, nicht hineinzugehen. Die Haupttür stand offen, und das riesige Heiligtum zog uns zusammen mit anderen Touristen in sich hinein, als ritten wir auf einer Welle in eine Höhle. Seit vierzehnhundert Jahren, überlegte ich, wurden Pilger hier hineingezogen, genau wie wir jetzt. Langsam ging ich bis in die Mitte und legte den Kopf in den Nacken, um den mächtigen, göttlichen Raum mit seinen berühmten, sich wölbenden Kuppeln und Bögen zu betrachten, das hereinströmende Himmelslicht, die runden Holzschilder mit arabischen Schriftzeichen oben im halbmondförmigen Abschluss des Kuppelraums, die zur Moschee gewordene Kirche auf den Ruinen der antiken Welt. Der Raum wölbte sich hoch, hoch
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