Der Historiker
und mit dieser komplizierten Frau an diesem magischen Ort stand und nach einem Engländer suchte, der vielleicht gerade in einem Bus unterwegs nach New York war. Ich verscheuchte den Gedanken und versuchte stattdessen, Helen etwas zu necken. ›Wie kommt es, dass du so viel über Geschichte weißt? Ich dachte, du wärst Anthropologin?‹
›Das bin ich auch‹, sagte sie. ›Aber man kann keine Kulturen studieren, ohne deren Geschichte zu kennen.‹
›Warum bist du dann nicht einfach Historikerin geworden? Die Kultur könntest du doch zusätzlich erforschen. So scheint es mir wenigstens.‹
›Vielleicht.‹ Sie sah streng aus und blickte an mir vorbei. ›Aber ich wollte ein Feld, das mein Vater nicht bereits zu seinem gemacht hatte.‹
Die Große Moschee lag im goldenen Abendlicht und war für Touristen und Gläubige noch immer geöffnet. Ich probierte es mit meinem mittelmäßigen Deutsch bei einem der Wärter am Eingang, einem lockigen jungen Mann mit olivenfarbener Haut – wie hatten die Byzantiner wohl damals ausgesehen? –, aber der sagte, es gebe da drinnen keine Bibliothek oder ein Archiv, nichts dergleichen, und er hätte nie von so etwas hier in der Nähe gehört. Wir fragten ihn, ob er eine Idee hätte, wo wir suchen sollten.
Wir könnten es in der Universität versuchen, meinte er. Und was kleine Moscheen anging, von denen gebe es Hunderte.
›Für heute ist es zu spät, um zur Universität zu gehen‹, sagte Helen. Sie studierte den Fremdenführer. ›Das machen wir morgen und fragen nach Archiven aus Mehmeds Zeit. Das wird uns am ehesten weiterbringen. Lass uns noch zur alten byzantinischen Stadtmauer gehen, von hier aus können wir einen Teil davon zu Fuß erreichen.‹
Ich folgte ihr durch die Straßen, während sie den richtigen Weg suchte, den Fremdenführer in ihrer Hand mit den schwarzen Handschuhen, die flache, kleine schwarze Handtasche unter dem Arm. Fahrräder fuhren an uns vorbei, türkische Kleidung vermischte sich mit westlicher, ausländische Autos wichen alten heimischen Pferdekarren aus. Überall sah ich Männer in dunklen Westen und mit kleinen gehäkelten Kappen, Frauen in bunt bedruckten Blusen, mit Pluderhosen, die Köpfe mit einem Tuch bedeckt. Sie trugen Einkaufstaschen und Körbe, Kleiderbündel, Hühner in Käfigen, Brot und Blumen. Die Straßen schäumten förmlich über vor Leben – wie sie es ungefähr sechzehnhundert Jahre lang getan hatten, dachte ich. Durch diese Straßen waren, begleitet von Priestern, die christlichen römischen Kaiser von ihrem Gefolge vom Palast in die Kirche getragen worden, um das heilige Sakrament zu empfangen. Sie waren strenge Herrscher, große Förderer der Künste, des Ingenieurwesens und des Glaubens gewesen – und einige von ihnen auch Scheusale, die ihre Höflinge in Stücke hacken und Mitglieder der eigenen Familie blenden ließen, ganz in der Tradition des alten Rom. Hier hatte sich die alte byzantinische Politik abgespielt. Vielleicht war es gar kein so seltsamer Ort für ein oder zwei Vampire.
Helen blieb vor einem noch aufragenden, zum Teil verfallenen steinernen Bauwerk stehen. Läden drängten sich daran, und Feigenbäume gruben ihre Wurzeln in seine Flanken. Über uns und den Zinnen rundum verblich ein wolkenloser Himmel zu Kupfer. ›Schau, was von der Mauer Konstantinopels geblieben ist‹, sagte sie ruhig. ›Man erkennt noch ihr Ausmaß und wie mächtig sie einmal war. Im Führer steht, dass das Meer in jenen Tagen bis an sie heranreichte, so dass der Kaiser sich vom Palast aus an Bord seines Schiffes begeben konnte. Und die Mauer da drüben war Teil des Hippodroms.‹
Wir standen da und bestaunten das alles, bis mir klar wurde, dass ich seit mindestens zehn Minuten nicht mehr an Rossi gedacht hatte. ›Lass uns etwas essen gehen‹, sagte ich. ›Es ist schon nach sieben, und wir sollten heute früh schlafen gehen. Ich will unbedingt morgen das Archiv finden.‹ Helen nickte, und wir gingen Seite an Seite durch das Herz der Altstadt zurück zu unserem Quartier.
In der Nähe unserer Pension entdeckten wir ein mit Messingvasen und schönen Fayencekacheln ausgeschmücktes Restaurant mit einem Tisch in einem zur Straße offenen, überdeckten Raum, wo wir sitzen und die Passanten beobachten konnten. Während wir auf unser Essen warteten, fiel mir eine Besonderheit dieser östlichen Welt auf, die mir bis dahin entgangen war: Wer immer es eilig zu haben schien, beeilte sich nicht wirklich, sondern ging normal dahin. Was
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