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Der Horizont: Roman (German Edition)

Der Horizont: Roman (German Edition)

Titel: Der Horizont: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Modiano
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»Gespenst der Vergangenheit« auftauchen sehen, oder zumindest hatte er das geglaubt. Nein, er war sich fast sicher.
    Das Viertel, in dem er sich an jenem Abend aufgehalten hatte, war ihm nicht viel anders vorgekommen als das von Boyavals Maklerbüro. Aber dennoch, der Parc de Bercy gefiel ihm besser, mit den Wolkenkratzern auf der anderen Seite der Seine und den funkelnden Gebäuden rings um die Bibliothèque Nationale, wo ein Mädchen, das Margaret ähnlich sah – nein, nein, es war Margaret, so, wie er sie gekannt hatte –, ein neues Leben lebte, in neuen Straßen. Eines Tages würde er vielleicht das Glück haben, ihr wiederzubegegnen, wenn es ihm gelang, die unsichtbaren Zeitgrenzen zu überwinden.
    Er hatte einer Sekretärin, die zu Hause arbeitete, etwa hundert Seiten zum Abtippen gegeben – aber gebrauchte man heute noch dieses Verb, das an monotones Geklapper alter Schreibmaschinen erinnerte? Alles sei fertig, hatte sie ihm an diesem Tag gesagt. Er könne abends gegen acht bei ihr vorbeischauen, in der Nähe der Porte de Saint-Cloud.
    Er hatte die Metro genommen. Es war wie in der Zeit von Simone Cordier, wenn er ihr jede Woche die handgeschriebenen Blätter brachte. Und jedesmal hatte sie nur drei Seiten getippt. Wohin stellte sie in dieser Wohnung ohne Möbel ihre mysteriöse Schreibmaschine? Auf die Bar? Und tippte sie dann im Stehen, oder saß sie auf dem hohen Hocker? Seither hatte er über zwanzig Bücher geschrieben, und es waren ein paar technische Fortschritte gemacht worden: Die Frau würde ihm nachher einen USB -Stick aushändigen, und der Text würde glatt sein, ohne die durchgestrichenen Os, die zwei Punkte und die Häkchen von Simone Cordier. Doch was hatte sich wirklich verändert? Es waren immer die gleichen Wörter, die gleichen Bücher, die gleichen Metrostationen.
    Er stieg an der Porte de Saint-Cloud aus. Ja, er mochte die neuen Viertel im Osten lieber, diese neutralen Gebiete, die einem vorgaukelten, man könnte dort ein zweites Leben leben. Die rote Backsteinkirche auf der Place de la Porte de Saint-Cloud dagegen holte ihn zurück in die Vergangenheit und erinnerte ihn an eine unglückliche Episode: Er ist zwölf, er sitzt auf der Rückbank eines R4, seine Mutter und der aus der Kutte Gesprungene vor ihm, letzterer am Steuer. Er nutzt eine rote Ampel, um aus dem Auto zu entwischen, er rennt bis zur Kirche und versteckt sich dort den ganzen Nachmittag, aus Angst, die beiden könnten ihn draußen auf dem Trottoir entdecken. Das ist seine erste Flucht.
    Als er aus der Metro kam, merkte er beim Kramen in der Innentasche seiner Jacke, dass er den Zettel vergessen hatte, auf dem Name und Adresse der Sekretärin standen und auch ihre Telefonnummer. Sie hieß Clément. Er wusste auch noch den Straßennamen: Avenue Dode-de-la-Brunerie. Die kannte er nicht. Er fragte einen Passanten nach dem Weg. Geradeaus, auf der anderen Seite des Platzes, kurz vor Boulogne.
    Er rechnete mit einer ziemlich kurzen Straße, gesäumt von Häusern mittlerer Größe, und er hoffte, es werde an den Eingängen keine Zahlencodes geben. Dann könnte er jedesmal rasch die Tafel mit den Mietern überfliegen, auf der Suche nach Mademoiselle Clément. Aber die Häuser waren etwa so groß wie die Häuser am ehemaligen Quai de la Gare, die er zum ersten Mal an dem Tag gesehen hatte, als er zu Boyavals Maklerbüro gegangen war. Große, neue Gebäude. Nur sieben gerade Hausnummern: Nr. 2, Nr. 6, Nr. 10, Nr. 12, Nr. 16, Nr. 20, Nr. 26. Bosmans hob die Augen zum Himmel und schätzte, dass unter jeder Nummer an die fünfzig Leute wohnten. Namen zogen an seinen Augen vorüber. Jacqueline Joyeuse. Marie Feroukhan. Brainos. André Cocard. Albert Zagdun. Falvet. Zelatti. Lucienne Allard. Aber keine einzige Clément darunter. Ihm drehte sich der Kopf. Die Namen waren Rennpferde, die unaufhörlich im Galopp vorbeipreschten und ihm keine Zeit ließen, sie voneinander zu unterscheiden. Herzkönig. Kynette. Blau und Rot. Mercury Boy. Schmeichelkatze. Mein Goldschatz. Angst packte ihn an der Gurgel, ein Gefühl von Leere. Er würde Mademoiselle Clément unter diesen Tausenden und Abertausenden von Namen und Pferden nicht wiederfinden. Er wollte so schnell wie möglich raus aus dieser Straße. Der Boden wankte unter seinen Füßen. Was hatten die Anstrengungen genützt, mit denen er seit vierzig Jahren Pfähle einrammte? Alle waren verrottet.
    Als er den Platz überquerte, erfasste ihn Schwindel. Laut sagte er sich den

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