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Der Horizont: Roman (German Edition)

Der Horizont: Roman (German Edition)

Titel: Der Horizont: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Modiano
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da, auf dem Nachttisch. Sie betrachtete den Umschlag, und fast wunderte es sie, darauf zu lesen:

    Mademoiselle Margaret Le Coz
    Hôtel Sévigné
    6 Rue de Belloy
    Paris 16 e
    Das Schreiben trug den Briefkopf der Agentur Stewart. Ein paar getippte Zeilen:
    Sehr geehrtes Fräulein,
    ich erinnere Sie daran, dass ich Sie bei unserem Treffen am vergangenen Donnerstag um ein Zeugnis Ihres ehemaligen Arbeitgebers, Monsieur Bagherian, gebeten hatte. Könnten Sie mir außerdem einen kurzen Lebenslauf zukommen lassen, denn ich habe soeben bemerkt, dass Ihre Karteikarte in der Agentur zu viele Lücken aufweist für unsere Kunden.
    Mit besten Grüßen,
    J. TOUSSAINT
    Ihr Leben … Wenn sie nicht schlafen konnte, im Zimmer des Hôtel Sévigné, dann gingen ihr kurze Episoden durch den Kopf, und sie hatte das Gefühl, in einem Nachtzug zu reisen. Das Geruckel des Waggons passte gut zum Rhythmus ihres Lebens. Sie legte ihre Stirn an die Scheibe des Abteilfensters. Die Dunkelheit und dann, von Zeit zu Zeit, die menschenleeren Bahnsteige eines durchfahrenen Bahnhofs, auf einer Tafel der Name einer Stadt, die ein Bezugspunkt war, ein pechschwarzer Tunnel … Berlin. Sie hatte fast keine Erinnerung an Berlin. Sie sitzt mit anderen Kindern auf einem Schuttberg, gegenüber Häuserruinen, und den ganzen Nachmittag beobachten sie die Flugzeuge, die in kurzen Abständen über sie hinwegfliegen und ein Stück weiter landen. Wenn sie auf deutsch träumt, hört sie ein Lied, das vom Landwehrkanal erzählt und das ihr angst machte … Lange Zeit hat sie ein altes, im Krieg gedrucktes Buch aufbewahrt, Vom Winde verweht . Darin hatte sie eine Karteikarte entdeckt, die als Lesezeichen diente, mit dem Stempel der Firma Argus Motoren, Graf-Roedern-Allee, Berlin-Reinickendorf, und darauf stand der Name ihrer Mutter: Le Coz Geneviève, geboren in Brest. Französin. Sie besitzt diese Karteikarte noch immer, die einzige Erinnerung an ihre Mutter. Es passiert, dass du einen Gegenstand, an dem dir viel liegt, nach ein paar Tagen verlierst: vierblättriges Kleeblatt, Liebesbrief, Teddybär, während andere Gegenstände dich jahrelang hartnäckig verfolgen, ohne dich um deine Meinung zu fragen. Wenn du glaubst, sie endgültig losgeworden zu sein, tauchen sie in irgendeiner Schublade wieder auf. Vielleicht sollte sie die Karteikarte an diesen Monsieur J. Toussaint von der Agentur Stewart schicken. Das könnte die Kunden interessieren.
    Und dann von Berlin die Rückkehr nach Frankreich, bis Lyon. Sie war noch in keinem verständigen Alter, doch sie erinnert sich an den Nachtzug, der in allen Bahnhöfen hielt und stundenlang auf freier Strecke. Sie weiß nicht mehr, ob ihre Mutter sie begleitete oder ob sie allein war in diesem Zug. In Lyon arbeitet ihre Mutter bei irgendwelchen Leuten: Wahrscheinlich hatte auch sie sich in einem Vermittlungsbüro vom Typus Agentur Stewart einschreiben müssen. Das Internat in der Montée Saint-Barthélemy. In ihren Träumen geht sie noch heute, und es ist immer derselbe Weg, nachts von der Place des Terreaux zum Quai Saint-Vincent, an der Saône entlang. Sie spürt genau, dass jemand sie von weitem begleitet, doch sie vermag ihn vor lauter Nebel nicht zu identifizieren. Ihr Vater, den sie nicht gekannt hat? Sie überquert eine Brücke und kommt auf die Place Saint-Paul. Sie starrt auf die große, leuchtende Bahnhofsuhr. Sie erwartet jemanden, auf dem Bahnsteig, einen Zug aus Deutschland. Ihre Mutter heiratet einen Automechaniker aus dem Croix-Rousse-Viertel, den sie nicht mag. Internate in Thônes und in La Roche-sur-Foron. Sie bricht die Brücken zu ihrer Mutter endgültig ab. In Annecy bekommt sie ihre ersten Stellen bei Zuccolo und während des Sommers im Büfett des Sporting. Sie ist als Kellnerin bei Fidèle Berger beschäftigt und arbeitet in der Librairie de la Poste. Im Hôtel d’Angleterre will man sie nicht haben. Sie kümmert sich in Lausanne als Gouvernante um die zwei Kinder eines Monsieur Michel Bagherian.

E in Mädchen ging vor Bosmans und schob einen Kinderwagen, und von hinten hatte sie die gleiche Silhouette wie Margaret. Er kannte diesen Park nicht, auf dem Grundstück der ehemaligen Lagerhallen von Bercy. Drüben, auf der anderen Seite der Seine, an dem Quai, der nicht mehr Quai de la Gare hieß, Wolkenkratzer. Er sah sie zum ersten Mal. Das war ein anderes Paris, nicht das ihm seit Kindheitstagen vertraute, und er hatte Lust, die Straßen zu erkunden. Ja, dieses Mädchen vor ihm hatte

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