Der Hühnerführer: Roman (German Edition)
Würde ein Anruf aus Prag reichen?
Ein Blick in die Augen des Zöllners, der Alexander vden Pass mit den Worten „Gute Reise!“, zurückgab reichte, um ihm die Frage glasklar und ohne Zweifel zu beantworten.
***
Alexander hatte den Grenzübergang Kleinhaugsdorf gewählt, weil er sich Zeit nehmen wollte. Er erinnerte sich dunkel an die alte Strecke, die über Znaim und Iglau nach Prag führte. Eine enge Straße, die sich durch die Hügel wand, nicht diese Autobahn, die ihn innerhalb von zwei Stunden von Brünn aus in die tschechische Hauptstadt führte. Er wollte das Land sehen, in dem er fünf Jahre seines Lebens verbracht hatte. Wollte das Land sehen, für das er Jahrzehnte lang diesen kleinen, erbärmlichen Doppelagent gegeben hatte.
Er bereute die Entscheidung bald.
Die Dörfer, durch die er fuhr, waren ähnlich deprimierend, wie die, die man entlang der Landstraßen Ostösterreichs kannte.
Eine angebliche Verletzung der Vorrangregel nördlich von Iglau kostete ihn vier Packungen Milde Sorte.
Die Strecke ermüdete ihn.
Entweder fuhr er auf jaucherutschiger Straße einem Traktor hinterher, oder er musste einem solchen ausweichen, wenn der ihm auf der Hälfte seines eigenen Fahrstreifens entgegenkam.
Als er nach einer Stunde Fahrt an einer Raststätte namens „Mlyn“, "Mühle", vorbeikam, die tatsächlich einer solchen nachempfunden war, beschloss er einzukehren. Der postkommunistische Neobarock, der ihm aus jeder Fuge des Lokals entgegenschrie, hätte ihn beinahe kehrt machen lassen, doch er spürte, dass er für eine Weiterfahrt zu erschöpft war.
Jetzt schon.
Alexander fühlte sich wie die siebzig, denen er gleichsah, wenn er sich zur allmorgendlichen Rasur seinem Spiegelbild stellen musste. Schwer ließ er sich auf eine Sitzbank beim Fenster fallen. Es dauerte, bis sich ein Kellner einstellte.
„ Dobry den“, wurde er begrüßt. Er überlegte, ob er auf tschechisch antworten sollte, ließ es aber bleiben. Zu viele schlechte Erinnerungen würden hochkommen, wenn er sich selbst in dieser Sprache hörte.
„ Guten Tag“, antwortete er deshalb. „Sprechen Sie deutsch?“
„ Anno, trochu.“ Ja ein wenig.
„ Wunderbar. Ich hätte gerne einen großen Espresso mit Milch. Und welche Mehlspeisen haben Sie denn?“
In den vergangenen Jahren hatte er einen Vorliebe für Torten, Kuchen und allem was süß war, entwickelt. Vor Menschen, die ihn länger kannten, war ihm das auf unerklärlichen Gründen unangenehm. War er hingegen alleine, ließ er diese neue Schwäche widerstandslos zu.
„ Mein Kollege bringt Karte von Dessert. Moment.“
Der Kellner wandte sich ab, und rief etwas in die Küche. Wenige Momente später kam besagter Kollege mit einem eingeschweißten Papier. Die Karte war auf deutsch. Alexander bedankte sich und erklärte nach kurzem Studieren der Liste, er hätte sich für die Cremeschnitte entschieden.
Dann wartete er.
Der Kaffee kam, die Mehlspeise auch.
Er trank und aß gemächlich.
Dann starrte er eine Weile aus dem Fenster.
Er ließ es zu, dass seine Augen zufielen.
Er döste ein paar Minuten vor sich hin, in all der Zeit blieb er der einzige Gast.
Dann rief er wieder den Kellner.
„ Könnten Sie mit bitte noch einmal die Karte bringen?“
Der Kellner nickte, wandte sich ab, rief wieder etwas in die Küche, wurde jedoch von Alexander unterbrochen: „Nein, nicht die deutsche Touristenkarte, die tschechische, bitte.“
Der Kellner zuckte mit den Achseln, brachte diesmal eine mehrseitige, vollständige Speisekarte und legte sie Alexander auf den Tisch.
„ Und jetzt würde ich gerne zahlen.“
Der Kellner nannte eine abenteuerliche Summe.
Alexander lächelte freundlich. „Das ist wohl nicht der Preis, der hier auf der Karte steht, oder?“
Der Kellner lächelte ebenso freundlich: „Sie zeigen mir, wo steht ihr Schnitte, sie sagen mir Preis.“
Alexander schlug die Dessertseite auf, sagte relativ akzentfrei „Smetanový Dort“ und las den Preis vor, der etwa einem Zehntel dessen entsprach, was der Kellner eben noch verlangt hatte.
Dieser verzog missmutig das Gesicht. „Sie hätten mir sagen können, dass Sie sprechen tschechisch.“
„ Das hätte ich vielleicht getan, wenn ich nicht im Fremdenverkehr gearbeitet hätte. Aber so kenne ich natürlich die erste Regel, wenn man in ein Gasthaus geht.“
Der
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