Der Hühnerführer: Roman (German Edition)
etwas unangenehm war, oder der bei etwas Verbotenem ertappt wurde.
Wir schwiegen beide kurz, dann fragte ich, um die unangenehme Stille zu durchbrechen: “Demnach werden Sie hier wohl Huhn bestellen?”
Er sah mich verblüfft an, so als wäre die Frage an sich vollkommen absurd. Was sie nicht war, denn nach den Hühnergerichten fanden sich auf den späteren Seiten der Karte auch andere Speisen wie Schweinsbraten oder Spaghetti Bolognese.
“ Aber was denn sonst? Ich esse immer Huhn.”
“ Immer?”
“ Ja, immer. Ich sagte Ihnen doch, dass es für mich nichts Besseres gibt.”
“ Aber,” fragte ich, nun doch neugierig geworden, “was tun Sie denn, wenn es kein Huhn auf der Speisekarte gibt?”
Wieder dieser erstaunte Blick. “Dann verlasse ich natürlich das Lokal.”
***
“ Ihnen muss”, sagte Herr Dvorschak, während er sich das Fett, das sein halbes Brathuhn auf seinen Fingerspitzen hinterlassen hatte, ableckte, “meine außergewöhnliche Vorliebe für Huhn recht ....” er hielt kurz inne, schien nach dem richtigen Wort zu suchen “... exzentrisch vorkommen.”
Exzentrisch? Herr Dvorschak unterlief bei der Einschätzung seiner Persönlichkeit durch mich eine maßlose Untertreibung. “Vollkommen verrückt” hätte es definitiv besser getroffen. Über nichts anderes als Huhn hatte er in der vergangenen halben Stunde gesprochen. Etwa darüber, dass man die Hühnerbraterei am besten besuchte, wenn sie praktisch bis auf den letzten Tisch besetzt sei. Auf jeden Fall habe man sie bei allzu ausgeprägtem Leerstand zu meiden. Denn nur wenn die Hühnerbackrohre in voller Auslastung liefen, rann das Fett in optimaler Weise über die rotierenden Hühnerleiber, was wiederum die einzige Garantie dafür darstellte, dass die Haut ordentlich knusprig und das Fleisch von korrekter Saftigkeit sei. An einem Punkt sprach Herr Dvorschak tatsächlich vom “Saftigkeitsgrad”: Ab welchem Wert dieser nicht mehr zu verbessern sei, und wie man ihn am besten messe. Sowohl Zahl als auch Messmethode hatte ich vergessen, bevor die jeweiligen Sätze vollendet waren.
“ Sie glauben, dass ich Sie für exzentrisch halte, weil Sie gerne Huhn essen?”, versuchte ich der Frage – auf klassische Art und Weise – durch eine Gegenfrage auszuweichen.
“ Nein, das glaube ich nicht.” Herr Dvorschak, hatte eines der beigelegten Feuchttücher ausgepackt und wischte sich energisch die Hände ab. “Ich glaube, dass Sie mich für vollkommen verrückt halten.
Mit diesem Satz begann ein Freundschaft, die ein knappes halbes Jahrhundert anhalten sollte.
1962
Nachdem ich Herrn Dvorschak seine Einschätzung meiner Einschätzung bestätigt hatte, sah er mich freundlich an und sagte: “Sie müssen wissen, für mich ist das eine Art Hobby.”
“ Hühner zu essen ist Ihr Hobby?”
“ Nein, nein.” Er winkte ab. “Dann wäre ich ja tatsächlich verrückt. Oder fett. Wahrscheinlich beides. Nein, Huhn an sich ist mein Hobby. Alles, was es über Hühner zu wissen gibt, interessiert mich. Wie sie leben, wo sie leben, in welchen Farben es sie gibt, und natürlich wie sie zubereitet werden. Nennen Sie mich einen interessierten Laien in Sachen Hühneranthropologie.”
“ Dieses Wort gibt es nicht.”
“ Im Deutschen gibt es viele Wörter nicht, bis man sie bildet. Manchmal leben sie dann einen Satz lang und werden dann umgehend vergessen. Manchmal überleben sie ihren Schöpfer. Ich habe fest vor, mich das Wort 'Hühneranthropologie' überleben zu lassen.”
“ Demnach sind Sie der erste Hühneranthropologe?”
“ Natürlich nicht. Dafür müsste es zuerst einen Lehrstuhl für Hühneranthropologie geben. Ob ich das noch erlebe, weiß ich nicht. Schön wäre es schon. Aber ich weiß nicht...”
Herrn Dvorschaks Mimik lieferte keinen Hinweis darauf, ob er sich einen Spaß mit mir erlaubte. Weder zuckte an irgendeiner Stelle der Ausführung ein Mundwinkel in die Höhe, noch blitzten seine Augen in verräterischer Art und Weise auf. Herr Dvorschak, so schien es, meinte es ganz und gar ernst.
“ Sie meinen das wohl ganz und gar ernst?”
“ Aber natürlich! Jeder Mensch sucht doch nach einem Lebenssinn, oder?”
“ Und Ihr Lebenssinn besteht im Huhn?”
“ Exakt.”
“ Das zu glauben fällt mir schwer.”
“ Wieso? Wäre ich ein Mann, der Briefmarken sammelt, oder Schmetterlinge, würde ich sonst irgendwelche
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