Der Hühnerführer: Roman (German Edition)
Absonderlichkeiten mit einer Pinzette in horizontale Anordnung bringen, oder wäre ich der Ägyptologie zugetan – in keinem dieser Fälle würden Sie sich wundern, oder?”
“ Wahrscheinlich nicht.”
“ Aber ganz sicher nicht!”, rief Herr Dvorschak aus. Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust, sah mich prüfend an. “Und jetzt erklären Sie mir einmal den Unterschied.”
***
Am Abend des selben Tages saß ich auf dem kleinen Balkon meiner kleinen Garconniere im 22. Bezirk. Ein Glas Weißwein in der Hand, starrte ich auf die Fassade des mir gegenüberliegenden Gemeindebaus, deprimiert vom Gedanken, dass ich das exakte Ebenbild meines eigenen Wohnhauses betrachtete.
“ Lebenssinn.” Was für ein Wort. Eines, das, dessen war ich sicher, auf keinen Fall existierte. Genauso wenig wie seine “Hühneranthropologie”. “Lebenssinn!” Dieser Begriff, der sich jetzt in meinem Kopf festgesetzt hatte und somit diesen einen, ersten Geburtssatz bereits überlebt hatte. Was sollte dieses Wort eigentlich? Was wollte er damit anfangen? Waren wir nicht alle erst wieder vor einem Wimpernschlag in einer neuen Realität, einer neuen Hoffnung angekommen? All die Jahrzehnte zuvor Armut, Unsicherheit, Krieg und Mord und jetzt … jetzt endlich, das erste Mal seit Generationen wieder so etwas wie Hoffnung, dass aus dieser Ausblutung, aus dieser ultimativen Auszehrung dieses halbtoten Kontinents so etwas wie Ruhe und Frieden entstehen konnte, ausgerechnet jetzt, wo alles gerade wieder neu begann, ausgerechnet jetzt forderte ein Mann wie Herr Dvorschak “Lebenssinn” ein.
Ich blickte noch einmal auf die mir gegenüberliegende Fassade, leerte mein Glas, seufzte leise. Es war Anfang September und am Abend spürte man bereits den Herbst herannahen. Das Grummeln in meinem Magen, das entstand, wenn ich an Herrn Dvorschaks “Lebenssinn” dachte, nahm ich mir vor, mit einer zweiten Flasche zum Schweigen zu bringen. Denn solange sie mir nicht sagen konnten, was sie an unserem Leben denn so furchtbar störte, sollten meine Innereien gefälligst den Mund halten.
Wie wir waren
Der junge Präsident traf uns im selben Jahr zwei Mal mitten ins Herz. Einmal, als er vor die Mauer trat und am Ende seiner Rede “Ich bin ein Berliner” sagte. Wobei, zugegeben, es war eher ein Missverständnis, das uns so rührte, eines, das sich wiederum daraus ergab, dass man immer nur den einen Satz zitierte und nicht den davor kolportierte, was aber letzten Endes egal war. Vor allem deshalb, weil er, John F. Kennedy, ein paar Monate später sein frühes Ende fand. Schweinebucht und Vietnam hin oder her, wir waren fassungslos, wir waren versteinert. Wir standen vor den Schaufenstern der Elektroläden und beobachteten mit vor den Mund geschlagener Hand, wie der Mann, der uns damals als Messias galt, einfach so totgeschossen wurde. Ein Wunder, dass wir ob all der Aufregung erkannten, dass es noch einen zweiten großen Amerikaner gab. Von anderer Hautfarbe als Er und wir, doch manchen von uns war das egal. Wir hörten zu, wie er uns von seinem Traum erzählte, hofften, dass die Neger in Amerika und Südafrika endlich ihre Freiheit erhielten, dachten aber noch nicht daran, dass wir vielleicht über neue und bessere Bezeichnungen für unsere aus Afrika stammenden Brüder und Schwestern nachdenken sollten.
Ich jedenfalls kann mich an einen Tag besonders gut erinnern – damals holte ich die Mizzi mit meinem Racing Green Metallisé Mini Cooper von ihrem Elternhaus ab und brachte Sie zum Gartenbau-Kino. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich Mizzi erzählt hatte, man würde “Peter und Connie machen Musik spielen”. In Wirklichkeit war es die Uraufführung von “Für eine Handvoll Dollar”. Die Mizzi durfte ich an jenem Abend nicht mehr küssen, was egal war. Clint Eastwood hätte das auch nicht gejuckt. Die Mizzi kam auch nicht mehr mit zu mir nach Hause zum Fernsehen, als Wembley passierte. Auch das war mir egal, Gesellschaft konnte ich auch im Beisl ums Eck finden, wo der Wirt extra für den Anlass einen Fernseher aufgestellt hatte. So etwas hatte die Welt noch nicht gesehen – es war fast so, als wären wir alle im Stadion, als die Engländer das letzte – und entscheidende – Tor der WM gegen die Deutschen schossen. Dass mich der bärtige Kerl rechts von mir in seinem Überschwang ziemlich feucht auf den Mund küsste, war mir weniger egal als Mizzis abgekühlte Vergötterung
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