Der Hueter und das Kind
übersäte, eine freie Fläche, die groß genug war, daß er sich darin mit überkreuzten Beinen niederlassen konnte. Daß die welke Haut und das faulende Fleisch an Timots Beinen dabei rissen, störte ihn nicht. Und den damit einhergehenden Schmerz überließ er dem Vampir allein.
Alles Streben galt allein dem Kelch.
Daß Sahya Patnaik wie unter fremdem, allmächtigem Willen handelte, drang ihm nicht zu Bewußtsein .
Er stellte den Gral vor sich auf den Boden, genoß den Anblick im Licht blakender Kerzen und Fackeln sekundenlang.
Dann reckte er den Kopf etwas vor, damit er in den Kelch hineinsehen konnte. Tief tauchte sein Blick in die Schwärze jenseits der Öffnung ein. Seine Fingerspitzen berührten das rauhe Material der Außenwand.
Energie begann zu fließen; sichtbar flirrte sie wie schwaches Elmsfeuer von seinen Armen über die Hände und die Finger - - und berührte den Kelch, durchdrang ihn.
Ein Schrei gellte, lautlos und dennoch alles erschütternd.
Der Schrei einer Kelchseele.
Der einzigen, die noch darin gefangen war.
Noch .
*
Italien, Rom
Der doppelgesichtige Gott Janus sollte im Altertum diesen Hügel zu seinem liebsten Ort erkoren haben. Tinto wußte nicht, ob ein Körnchen Wahrheit in dieser Sage steckte, denn um es aus eigener Anschauung erfahren zu haben - so lange wandelte noch nicht einmal er auf römischem Boden.
Aber wenn es so gewesen war, dann fühlte Tinto sich dem Zwei-gesichtigen auch dadurch verbunden - denn die Eigenschaft, zwei Gesichter zu zeigen, war ebenso eine der seinen. Rom kannte ihn als lebensfrohen und sinnesfreudigen Charmeur, der seinen festen Platz in den Reihen der Oberen Zehntausend der Stadt vielleicht auch dann behalten hätte, wenn sein Reichtum sich unversehens in Nichts aufgelöst hatte.
Dies war das eine Gesicht Tintos - das des Gönners und in Ehren ergrauten Playboys.
Das andere durften nur wenige schauen. Und jene, die es taten, hatten hernach keine Gelegenheit mehr, davon zu berichten - mangels eigenen Willens die einen; die anderen, weil sie das Privileg schlicht nicht überlebten .
Wie also auch der Gott Janus liebte Tinto den zweifellos schönsten der sieben Hügel Roms: Gianicolo. Nicht nur, weil von hier aus zu sehen war, daß Rom tatsächlich auf mehr als nur sieben Hügeln erbaut worden war. Die Zahl beruhte auf einem Übersetzungsfehler des Gelehrten Varro vor über zweitausend Jahren ...
Nein, Tinto lebte auch aus anderen Gründen seit nunmehr schon etlichen Jahrzehnten hier oben im Palazzo Gianicolo. Trastevere, das beliebteste Viertel Roms, lag ihm direkt zu Füßen und quoll vor allem in den Nächten schier über von pulsierendem Leben. So hatte er es nicht weit bis zur »Quelle« ... Und das Haus war trotzdem abgelegen genug, daß seine Umtriebe nicht auffallen konnten. Wenngleich er Gesellschaft liebte und sich gerne Gäste einlud; wie auch heute. Gläserklirren und das noch gedämpfte Murmeln Dutzender Stimmen stiegen zu ihm herauf. Erst später würde die Stimmung -nun, gelöster werden .
Tinto überprüfte mit raschen Blicken den korrekten Sitz seines Smokings, den ihm ein mehr als nur befreundeter Modedesigner auf den Leib geschneidert hatte. Ebenso überzeugte er sich davon, daß kein Blutfleck den Stoff verunzierte.
»Va bene!« befand er zufrieden und rief dann: »Maurizio?«
Sein livrierter Leibdiener trat lautlos in den erlesen ausstaffierten Raum, das Gesicht wie immer ausdruckslos, der Blick der Augen trüb.
»Signor?« fragte er lahm.
Tinto wies auf das leblose Mädchen, das mit verrenktem Hals quer über dem Bett lag.
»Schaff sie später weg, per favore.«
»Si, Signor«, antwortete Maurizio. »Wie immer?«
Tinto nickte nur. Der Tiber tilgte seit Jahrhunderten die Spuren seines Tuns.
Gestärkt verließ der Vampir den Salon und trat hinaus auf die Galerie, die in weitem Bogen in gut zehn Metern Höhe um die riesige Empfangshalle im Erdgeschoß verlief. Tinto sah hinab auf ein Meer von Köpfen, und doch waren es seit geraumer Zeit weniger als in all der Zeit zuvor.
Die Seinen waren nicht mehr dabei, wenn im Palazzo Gianicolo jene rauschenden Feste stattfanden, von denen anderntags stets ein paar Gäste weniger nach Hause gingen als am Abend vorher gekommen waren.
Der Tod hatte schließlich jene ereilt, die ihn um Jahrhunderte betrogen hatten. Ein qualvolles Sterben war es gewesen, und Tinto mochte nicht länger darüber nachdenken. Es hätte ihm die Freude auf das Fest verdorben. Und Einsamkeit quälte ihn
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