Der Hueter und das Kind
.
»Was ...?« preßte sie hervor.
Ein Gesicht erschien in den Nebeln, in die der Widderköpfige sich zurückgezogen hatte.
»Giuseppe?«
»Du hast geträumt, mein Liebling«, sagte ihr Mann. Seine Stimme war schwer vor Sorge.
»Ja«, erwiderte sie müde, unendlich müde und schwach.
»Wovon?« fragte Giuseppe.
»Nichts«, antwortete sie leise. »Ich erinnere mich nicht.«
»Ruh dich aus«, sagte Giuseppe, seltsam erstickt, als bereitete ihm das Sprechen Mühe.
Livia schloß die Augen.
Ihr Mann blieb noch neben ihrem Bett stehen. So lange, bis er ihren Anblick nicht mehr ertrug.
Den Anblick einer mindestens achtzigjährigen Greisin, zu der sie in wenigen Nächten geworden war.
*
Im Kelch...
. .. war die Finsternis Nehrus Welt geworden.
In dem Moment, da er gestorben war.
Und doch war es nicht das Reich des Todes, in dem er - lebte . .. ?
Mit Schwärze hatte das Sterben begonnen. Sie war aus einem Kelch über die Lippen des Kindes geflossen, und mit ihr hatte es den Tod getrunken, der in neuem Leben münden sollte .
»Wenn du nur wüßtest, wie bedeutsam, wie groß dieser Moment ist, mein Kleiner. Du würdest ihn genießen wie nichts zuvor in deinem jungen, armseligen Leben .«
Nehru hatte nie erfahren, was der Fremde mit der Narbe im Gesicht gemeint hatte. Die Größe des Momentes hatte sich ihm nie erschlossen, und es war nichts gekommen, das er hätte genießen können.
Denn das Gefühl, an der Grenze zum Tod gefangen zu sein, war nichts anderes als furchtbar. Obwohl er die Zeit dort in einem Zustand zubrachte, der wie Schlaf war - beinahe jedenfalls. Die Ähnlichkeit beschränkte sich darauf, daß Nehru sich nicht rühren konnte. Weil es nichts gab, was er hätte rühren können. Sein Körper war fort, er hatte ihn verlassen müssen, eingetauscht gegen die Schwärze, die nunmehr alles war für ihn.
Doch sie war nicht unendlich.
Nehru wußte es, obwohl er ihre Grenzen nicht erkannte. Und das lag nicht daran, daß ihm die Augen zu sehen fehlten. Mit dem, worauf er reduziert war, spürte er, daß die Finsternis sich auf einen im Grunde winzigen Raum konzentrierte - nicht größer als der Kelch, aus dem er die Schwärze hatte trinken müssen, nachdem der Fremde ihn entführt hatte .
Und die Lichtlosigkeit um ihn her war nicht leer.
Etwas war darin, eine Kraft, die ihm Trost spendete, ohne Worte zu sprechen oder gar irgend etwas zu tun. Sie war einfach nur da, umfing ihn in ganz ähnlicher Weise, in der Nehru einst die Liebe und Wärme seiner Mut-ter empfunden hatte. Eine namenlose, aber seltsam vertraute Macht war es, und Nehru glaubte sie zu kennen - oder wenigstens schon von ihr gehört und vor allem an sie geglaubt zu haben. Seine Mutter hatte ihm oft aus einem dicken Buch vorgelesen, in dem von eben dieser Macht die Rede war ...
Und dann wurde urplötzlich alles anders!
Nehru spürte, wie etwas durch die Schwärze um ihn herumfuhr, tastete - und ihn berührte.
Das Fremde beendete seinen »Schlaf«, »erweckte« ihn nach einer Zeit, für die ihm der Maßstab fehlte - und mit einemmal schlug die Einsamkeit in erstickenden Wogen über ihm zusammen!
Panische Angst flutete Nehrus Sein.
Er wollte hinaus! Fliehen aus dem, was ihm zum Kerker, zu seinem ganz eigenen Jenseits geworden war.
Doch es gab nichts, wohin er hätte flüchten, sich hätte retten können.
Nehru brüllte in lautloser Verzweiflung. Seine Seele schrie flehend nach einer neuen Heimstatt. Aber es gab keinen solchen Ort.
Noch nicht...
*
Italien
Gabriel lag auf dem Bett seiner kleinen Kammer, aber er schlief nicht.
Er schlief nie.
Statt dessen sah er wie in all den Nächten zuvor aus dem winzigen Fenster hinaus, in dem ein Teil der Berge wie ein gerahmtes Gemälde erschien. Und im Zentrum des Ausschnitts befand sich etwas, das wie bizarr verkrüppelter Auswuchs aus dem Fels dort oben ragte.
Monte Cargano .
Giuseppe Mazzano hatte ihm den Namen jenes Bauwerks dicht unter dem Himmel genannt. Der Name hatte etwas in Gabriel be-rührt, aber er vermochte mit dem Gefühl nichts anzufangen. Als fehlten ihm die Hände, um danach zu greifen, die Ohren, es zu verstehen.
Trotzdem konnte er nicht aufhören, dort hinaufzusehen.
Weil dieses Kloster der Grund seines Hierseins war. Der Grund seiner unendlich weiten Reise vom beinahe anderen Ende der Welt in das Land, das die Menschen Italien nannten.
Obgleich er nicht wirklich bewußt den Weg hierher gesucht hatte. Er hatte sich eher treiben lassen, darauf vertrauend, daß er sein
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