Der Hund von Baskerville
wenn man jemandem im Hotel einen Besuch macht.«
»Die Dame ist körperlich behindert, Sir. Ihr Mann war früher Bürgermeister von Gloucester. Sie kommt stets zu uns, wenn sie in London ist.«
»Danke. Mir scheint, sie gehört nicht zu meinem Bekanntenkreis. Wir haben durch diese Fragen etwas sehr Wichtiges festgestellt, Watson«, fuhr er mit leiser Stimme fort, als wir zusammen die Treppe hinaufstiegen. »Wir wissen jetzt, daß sich die Leute, die sich so sehr für unseren Freund interessieren, nicht im selben Hotel niedergelassen haben. Das bedeutet, daß Sie nicht nur, wie wir gesehen haben, viel Mühe darauf verwenden, ihn zu beobachten, sondern ebenso bemüht sind, von ihm nicht gesehen zu werden. Nun, daraus läßt sich eine ganze Menge entnehmen.«
»Was läßt sich daraus entnehmen?«
»Es läßt sich daraus entnehmen — hallo, mein lieber Mann, was ist denn mit Ihnen los?« Wir waren am oberen Ende der Treppe mit Sir Henry Baskerville zusammengestoßen. Sein Gesicht war rot vor Ärger, und er hielt einen alten, staubigen Stiefel in der Hand. Er war so wütend, daß er kaum ein Wort herausbringen konnte. Als er endlich sprach, hörte man den breiten amerikanischen Dialekt viel deutlicher heraus als am Morgen.
»Die denken wohl in diesem Hotel, sie können mich für dumm verkaufen!« schrie er. »Aber da sind sie an den Falschen geraten, ich mache dieses Affenspiel nicht mit. Zum Donnerwetter, wenn der Bursche meinen Stiefel nicht findet, dann kann er was erleben! Ich kann bestimmt Spaß vertragen, Mr. Holmes, aber das geht dann doch zu weit!« »Suchen Sie immer noch nach Ihrem Stiefel?«
»Ja, Sir, und ich habe es mir in den Kopf gesetzt, ihn wiederzufinden.«
»Aber sagten Sie nicht, es war ein neuer, brauner Stiefel?«
»So war es, Sir. Und nun ist es ein alter, schwarzer.«
»Was! Sie wollen doch nicht damit sagen...«
»Genau das wollte ich damit sagen. Ich hatte bloß drei Paar Schuhe: die neuen braunen, die alten schwarzen und die Lackschuhe, die ich jetzt trage. Gestern nahmen sie mir einen von meinen schönen braunen weg, und heute haben sie mir einen von den schwarzen geklaut. Na, was ist? Haben Sie ihn gefunden? Nun reden Sie schon, Mann, und starren Sie mich nicht so an!«
Ein entnervter deutscher Kellner war auf der Szene erschienen.
»Nein, Sir, ich habe überall im Hotel danach gefragt, aber ohne Erfolg.«
»Nun, entweder ist bis heute abend der Stiefel wieder da, oder ich gehe zum Direktor und sage ihm, daß ich auf der Stelle aus diesem Hotel ausziehe.«
»Man wird ihn finden, Sir — bestimmt, wenn Sie nur etwas Geduld haben wollen. Man wird ihn finden!«
»Kümmern Sie sich darum, denn es ist das letzte Mal, daß mir in dieser Räuberhöhle etwas abhanden kommt.
Sie entschuldigen, Mr. Holmes, daß ich Sie mit solchen Lappalien aufhalte...«
»Ich halte das gar nicht für eine Lappalie.«
»Sie nehmen die Sache also ernst.«
»Wie erklären Sie sich das denn?«
»Ich versuche gar nicht erst, dafür eine Erklärung zu finden. Es ist die verrückteste und seltsamste Sache, die mir je vorgekommen ist.«
»Die seltsamste vielleicht...«, sagte Holmes nachdenklich.
»Und was halten Sie davon?«
»Nun, ich muß sagen, daß ich da noch nicht durchblicke. Ihr Fall ist wirklich sehr verwickelt, Sir Henry, und wenn ich ihn in Verbindung mit dem Tod Ihres Onkels betrachte, dann bin ich gar nicht sicher, ob von den fünfhundert kriminalistisch bedeutenden Fällen, mit denen ich mich befaßt habe, einer eine so komplexe Problematik aufweist wie dieser. Aber wir halten mehrere Fäden in der Hand, und die Wahrscheinlichkeit besteht, daß einer davon uns zur Wahrheit führt. Es mag sein, daß wir Zeit verlieren, indem wir zunächst einer falschen Spur folgen, aber früher oder später müssen wir auf die richtige stoßen.«
Wir unterhielten uns recht angeregt während des Essens, doch über die Angelegenheit, die uns zusammengeführt hatte, wurde kaum gesprochen. Erst als wir hinterher in dem privaten Wohnzimmer saßen, fragte Holmes Sir Henry, was er nun zu tun beabsichtige.
»Nach Schloß Baskerville reisen.«
»Und wann?«
»Am Ende der Woche.«
»Ich halte Ihre Entscheidung durchaus für vernünftig«, sagte Holmes. »Deutliche Anzeichen sprechen dafür, daß hier in London jeder Ihrer Schritte überwacht wird. Doch herauszufinden, wer diese Leute sind und was sie eigentlich wollen, ist in dieser Millionenstadt schwierig. Wenn sie böse Absichten haben, könnten sie Ihnen
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