Der Hund von Baskerville
Abenteuer ging ich noch vor dem Frühstück den Korridor entlang und untersuchte das Zimmer, in dem ich Barrymore in der Nacht gesehen hatte. Ich habe festgestellt, daß das Fenster, durch das er so angestrengt hinausgestarrt hatte, eine Eigenschaft aufweist, die es vor allen anderen Fenstern des Hauses auszeichnet — es bietet den besten Ausblick auf das Moor. Vor dem Fenster befindet sich nämlich eine Schneise zwischen den Bäumen, durch die man einen freien Ausblick auf das Moor hat, während man durch die anderen Fenster wegen der Bäume immer nur kleine Ausschnitte zu sehen bekommt. Ich folgere daraus, daß Barrymore nach irgend etwas oder irgend jemand auf dem Moor Ausschau gehalten hat. Die Nacht war sehr dunkel. Ich kann mir deshalb kaum vorstellen, wie er hoffen konnte, irgend etwas zu sehen. Mir kam der Gedanke, daß es sich vielleicht um eine Liebesaffäre handelte. Das würde seine vorsichtigen Bewegungen und den Kummer seiner Frau erklären. Der Mann ist ein unerhört gutaussehender Bursche, ganz und gar geeignet, das Herz eines Dorfmädchens zu stehlen, so daß diese Hypothese durchaus Hand und Fuß hat. Das Öffnen der Tür, das ich gehört habe, nachdem ich wieder ins Bett gegangen war, könnte bedeuten, daß er zu einem heimlichen Stelldichein ausgegangen war. So habe ich es mir selbst zurechtgelegt, und ich teile Ihnen meinen Verdacht mit, wenn auch spätere Ergebnisse zeigen, daß er unbegründet war.
Was immer die wahren Beweggründe für Barrymores Handeln in jener Nacht sein mochten: Mir wurde jedenfalls klar, daß die Verantwortung, die Dinge für mich zu behalten, bis ich sieaufgeklärt hätte, zu viel für mich war und ich sie nicht allein tragen konnte. So hatte ich nach dem Frühstück ein Gespräch mit Sir Henry in seinem Arbeitszimmer. Ich erzählte ihm, was ich gesehen hatte. Er war weniger überrascht, als ich erwartet hatte.
»Ich wußte, daß Barrymore nachts herumwandert. Ich habe mir schon überlegt, ob ich einmal mit ihm darüber reden sollte«, sagte er. »Zwei- oder dreimal habe ich Schritte im Gang gehört, gerade zu der Zeit, die Sie angeben.«
»Vielleicht sucht er jede Nacht dieses besondere Fenster auf«, überlegte ich laut.
»Vielleicht. Wenn dem so ist, sollte es uns ein leichtes sein, ihn zu beschatten und herauszufinden, was er vorhat. Ich frage mich, was Ihr Freund, Mr. Holmes, tun würde, wenn er hier wäre.«
»Ich glaube, er würde das tun, was Sie gerade vorschlagen«, sagte ich. »Er würde Barrymore folgen und sehen, was er macht.«
»Dann wollen wir das gemeinsam tun.«
»Aber bestimmt würde er uns hören.«
»Der Mann ist ziemlich taub, und in jedem Fall müssen wir es riskieren. Wir werden heute nacht aufbleiben, in meinem Zimmer zusammensitzen und warten, bis er vorbeikommt.«
Sir Henry rieb sich vergnügt die Hände, und es war klar, daß er sich einen Spaß erhoffte als Ausgleich für das reichlich stille Leben auf dem Moor.
Der Baronet hat sich mit dem Architekten in Verbindung gesetzt, der die Umbaupläne für Sir Charles erstellt hat, und mit einer Baufirma aus London. Gewiß wird hier bald vieles anders werden. Es waren schon Innendekorateure und Möbelhändler aus Plymouth hier. Klar, daß unser Freund großartige Ideen hat und weder Mühe noch Kosten scheuen wird, um die alte Pracht seines Familienbesitzes wiederherzustellen. Wenn das Haus renoviert und neu möbliert ist, braucht er nur noch eine Ehefrau, um sich zu etablieren. Unter uns gesagt sind ziemlich klare Anzeichen dafür vorhanden, daß auch dies nicht mehr lange auf sich warten lassen wird, wenn die Dame einwilligt. Ich muß schon sagen: Ich habe selten einen Mann gesehen, der so verliebt in eine Frau gewesen ist, wie er es in unsere schöne Nachbarin, Miss Stapleton, ist. Und doch läuft die Liebesgeschichte nicht so glücklich, wie man es unter den Umständen erwarten sollte. Heute zum Beispiel geschah etwas ganz Unerwartetes, was unserem Freund peinliche Verlegenheit und erheblichen Ärger eingebracht hat.
Nach dem eben erwähnten Gespräch über Barrymore setzte sich Sir Henry seinen Hut auf, um auszugehen. Natürlich tat ich das gleiche.
»Was ist, Watson, wollen Sie etwa mitkommen?« fragte er und sah mich auf seltsame Weise an.
»Das kommt darauf an, ob Sie aufs Moor hinausgehen oder nicht«, erwiderte ich.
»Ja, ich gehe aufs Moor.«
»Nun, Sie wissen, wie mein Auftrag lautet. Es tut mir leid, wenn ich Ihnen lästig fallen sollte, aber Sie haben gehört, wie
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