Der Hundertjaehrige der aus dem Fenster stieg und verschwand
Fernsehverbot nach 23 Uhr. Und sie erklärte, dass das Frühstück wochentags um 6.45 Uhr serviert wurde, am Wochenende eine Stunde später. Mittagessen war um 11.15 Uhr, Kaffeepause um 15.15 Uhr und Abendessen um 18.15 Uhr. Wer draußen unterwegs war und sich verbummelte, war selbst schuld, wenn er nichts mehr zu essen bekam.
Daraufhin erklärte Schwester Alice die Regeln, die das Duschen und Zähneputzen betrafen, Besuch von draußen und Besuche der Heimbewohner untereinander, wie die diversen Medikamente ausgegeben wurden und zu welchen festgesetzten Uhrzeiten man Schwester Alice oder eine ihrer Kolleginnen belästigen durfte – es sei denn, es gab wirklich mal einen akuten Notfall, was laut Schwester Alice aber höchst selten vorkam, und sie fügte hinzu, dass die Bewohner generell zu viel quengelten.
»Aber scheißen darf man schon, wann man will, oder?«, erkundigte sich Allan.
So kam es, dass Allan und Schwester Alice schon eine Viertelstunde nach ihrer ersten Begegnung verkracht waren.
Allan war freilich nicht glücklich darüber, wie er den Krieg gegen den Fuchs geführt hatte (obwohl er ihn letztlich gewonnen hatte). Den Humor zu verlieren, lag ihm an sich ja gar nicht. Außerdem hatte er eine Ausdrucksweise verwendet, die die Vorsteherin des Altersheims vielleicht verdient hatte, die ihm aber überhaupt nicht ähnlich sah. Und dazu noch die ellenlange Liste von Regeln, die Allan ab jetzt beachten sollte …
Allan fehlte sein Kater. Und er war neunundneunzig Jahre und acht Monate alt. Seine Stimmungen schienen ihm zu entgleiten, und im Heim stand er ganz unter der Fuchtel von Schwester Alice.
Jetzt war es genug.
Allan war fertig mit dem Leben, denn das Leben schien ja auch fertig mit ihm zu sein, und er war ganz bestimmt nicht der Typ, der sich aufdrängte.
Also würde er jetzt in Zimmer 1 einchecken, um 18.15 Uhr zu Abend essen und dann – frisch geduscht, in frischem Pyjama und in frischer Bettwäsche – ins Bett gehen, um im Schlaf zu sterben. Und anschließend hinausgetragen, begraben und vergessen zu werden.
Allan spürte, wie sich die Schicksalsergebenheit bis in die letzte Faser seines Körpers ausbreitete, als er gegen acht Uhr abends zum ersten und letzten Mal in sein Bett im Altersheim schlüpfte. In weniger als vier Monaten sollte er seinen dreistelligen Geburtstag feiern. Doch Allan Emmanuel Karlsson schloss die Augen und spürte ganz sicher, dass er jetzt für immer einschlafen würde. Sein Lebensweg war durchgehend ein spannender gewesen, aber nichts währt ewig, höchstens die allgemeine menschliche Dummheit.
Dann dachte Allan gar nichts mehr. Die Müdigkeit ergriff Besitz von ihm. Es wurde dunkel.
Bis es wieder hell wurde. Ein weißer Schein. War der Tod dem Schlaf so ähnlich? Und war er noch zu diesem Gedanken fähig, bevor es vorbei war? Aber Moment mal – wie viel kann man eigentlich noch denken, bevor man zu Ende gedacht hat?
»Es ist Viertel vor sieben, Allan, Zeit fürs Frühstück. Wenn Sie nicht aufessen, nehmen wir den Haferbrei wieder mit, und dann gibt es bis zum Mittagessen nichts mehr«, verkündete Schwester Alice.
Neben allem anderen konnte Allan feststellen, dass er auf seine alten Tage ganz schön naiv geworden war. Man konnte sich nicht einfach hinlegen und auf Bestellung sterben. Das Risiko war also groß, dass er auch am nächsten Tag wieder von dieser grässlichen Person Alice geweckt werden würde, die fast ebenso grässliche Hafergrütze hinstellen würde.
Nun gut. Bis zum Hundertsten waren es ja noch ein paar Monate, bis dahin würde er es schon hinkriegen, sich die Radieschen von unten anzugucken. »Alkohol tötet!«, hatte Schwester Alice das Alkoholverbot begründet. Das klang doch vielversprechend, fand Allan. Sollte er vielleicht gleich mal zum Spirituosengeschäft gehen und sich ein bisschen was besorgen?
* * * *
Die Tage vergingen und wurden Wochen. Der Winter wurde Frühling, und Allan sehnte sich fast so sehr nach dem Tod wie vor fünfzig Jahren sein Freund Herbert. Herbert bekam seinen Willen erst, als er seine Meinung geändert hatte. Das verhieß ja nichts Gutes.
Und was noch viel schlimmer war: Das Personal im Altersheim hatte mit den Vorbereitungen für Allans Geburtstag begonnen. Da sollte er sich dann also begaffen lassen wie ein Tier im Käfig, sie würden für ihn singen und ihn mit Torte füttern. Darum hatte er bestimmt nie gebeten.
Und jetzt blieb ihm nur noch eine einzige Nacht zum Sterben.
29. KAPITEL
Montag, 2. Mai
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