Der Hypnotiseur - Kepler, L: Hypnotiseur - Hypnotisören
bremsen.
»Ich setze voraus, dass Sie schon einmal von der ärztlichen Schweigepflicht gehört haben«, fährt Langfeldt fort, »außerdem …«
»Ich kenne die Gesetze«, unterbricht Joona ihn. »Wenn die zu untersuchende Straftat eine Haftstrafe von mehr als zwei Jahren nach sich ziehen würde, können …«
»Ja, ja, ja«, sagt Langfeldt.
Der Blick des Arztes ist nicht ausweichend, nur leblos.
»Ich kann Sie natürlich auch zu einer Vernehmung vorladen«, erläutert Joona sanft. »Der Staatsanwalt bereitet zur Stunde einen Haftbefehl für Lydia Evers vor. Im Zusammenhang mit den Ermittlungen werden wir selbstverständlich auch ihre Krankenakte anfordern.«
Doktor Langfeldts Finger trommeln gegeneinander, und er leckt sich die Lippen.
»Das ist es ja gerade«, sagt er. »Ich möchte bloß …«
Er verstummt.
»Ich würde einfach gerne eine Garantie bekommen.«
»Eine Garantie?«
Langfeldt nickt.
»Ich möchte, dass mein Name aus dieser Sache herausgehalten wird.«
Joona begegnet Langfeldts Blick und erkennt auf einmal, dass die Leblosigkeit des Mannes in Wahrheit unterdrückte Angst ist.
»Das kann ich Ihnen nicht versprechen«, sagt er schroff.
»Und wenn ich Sie darum bitte?«
»Ich bin stur«, erklärt Joona.
Der Arzt lehnt sich zurück. In seinen Mundwinkeln zuckt es leicht. Es ist das einzige Anzeichen von Nervosität oder Leben überhaupt, das er bisher gezeigt hat.
»Was wollen Sie wissen?«, fragt er.
Joona lehnt sich vor und antwortet:
»Alles, ich will alles wissen.«
Eine Stunde später verlässt Joona das Büro des Arztes. Er wirft einen flüchtigen Blick in den gegenüberliegenden Flur, aber die Frau in dem langen Kleid ist fort, und als er die Steintreppe hinuntereilt, stellt er fest, dass es in der Zwischenzeit dunkel geworden ist, der Park und die Spaliere sind nicht mehr zu sehen. Die junge Frau am Empfang ist offenbar nach Hause gegangen. Ihr Platz ist verwaist und die Eingangstür so verriegelt, dass sie sich nur von innen öffnen lässt. Obwohl Joona weiß, dass die Anstalt hundert Patienten beherbergt, herrscht im gesamten Gebäude vollkommene Stille.
Als er wieder in seinen Wagen steigt und den großen Parkplatz vor der Anstalt verlässt, friert er.
Irgendetwas stört ihn. Etwas, das er nicht zu fassen bekommt. Er versucht, sich an den Punkt zu erinnern, an dem es anfing, ihn zu stören.
Der Arzt hatte einen Ordner geholt, der mit den anderen in den Regalen identisch war, leicht auf die Vorderseite geklopft und gesagt:
»Da haben wir sie.«
Das Foto von Lydia zeigte eine recht hübsche Frau mit mittellangen, hennafarbenen Haaren und einem eigentümlichen Lächeln: Unter der ansprechenden Oberfläche strömte rasende Wut.
Als Lydia zum ersten Mal eingewiesen wurde, war sie erst zehn. Sie kam in die Klinik, weil sie ihren kleinen Bruder Kasper Evers getötet hatte. Eines Sonntags hatte sie ihm mit einem Holzstock den Schädel eingeschlagen. Dem Arzt gegenüber hatte sie erklärt, ihre Mutter habe sie gezwungen, den Bruder großzuziehen. Lydia war für Kasper verantwortlich, wenn die Mutter arbeitete oder schlief, und es war ihre Aufgabe, ihn zu züchtigen.
Lydia kam in die Obhut der Behörden, die Mutter wurde wegen Kindesmisshandlung zu einer Haftstrafe verurteilt, Kasper Evers starb im Alter von drei Jahren.
»Lydia hat ihre Familie verloren«, flüstert Joona und schaltet die Scheibenwischer ein, als ein entgegenkommender Bus seinen Wagen nass spritzt.
Doktor Langfeldt behandelte Lydia nur mit starken angsthemmenden Psychopharmaka und unterzog sie ansonsten keiner Therapie. Er war der Auffassung, dass die Mutter sie zu ihren Handlungen gezwungen hatte. Auf Grund seines Gutachtens wurde Lydia in einer offenen Einrichtung für jugendliche Straftäter untergebracht. Als sie achtzehn wurde, verschwand sie aus den Registern. Sie zog in ihr Elternhaus zurück und lebte dort mit einem jungen Mann zusammen, den sie im Jugendheim kennengelernt hatte. Fünf Jahre später wurde sie erneut aktenkundig, als sie in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen wurde, weil sie wiederholt Kinder auf einem Spielplatz geschlagen hatte.
Doktor Langfeldt begegnete ihr zum zweiten Mal, und sie wurde seine Patientin. Es war vorgesehen, dass eine Entlassung nur nach einem besonderen Prüfungsverfahren möglich sein sollte.
Der Arzt hatte mit rauer und distanzierter Stimme berichtet, dass Lydia zu einem Spielplatz gegangen war, dort ein bestimmtes Kind ausgewählt hatte, eine
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