Der Idiot
sie darüber handelten. Das
sprach ich ihm gleich damals aus, aber jedenfalls nicht deutlich, oder
ich wußte mich nicht auszudrücken; denn er verstand mich nicht ... Am
Abend kehrte ich in einer Kreisstadt in einem Gasthaus ein, um da zu
übernachten, und in diesem Gasthaus war kurz vorher, in der
vorhergehenden Nacht, ein Mord geschehen, so daß bei meiner Ankunft
alle noch davon sprachen. Zwei Bauern, ältere Leute, nicht betrunken,
schon lange miteinander bekannt und befreundet, hatten Tee getrunken
und wollten sich zusammen in ihrem gemeinsamen Kämmerchen schlafen
legen. Aber der eine hatte bei dem andern in den letzten zwei Tagen
eine silberne Uhr an einer Schnur von gelben Glasperlen gesehen, die er
offenbar bei ihm früher noch nicht gekannt hatte. Dieser Mann war kein
Dieb; er war sogar ein ehrenhafter Mensch und für einen Bauer durchaus
nicht arm. Aber diese Uhr gefiel ihm dermaßen und hatte für ihn so viel
Verlockendes, daß er schließlich nicht mehr widerstehen konnte: er nahm
ein Messer, ging, als der Freund sich umgedreht hatte, vorsichtig von
hinten an ihn heran, paßte die Entfernung ab, richtete die Augen gen
Himmel, bekreuzte sich, und nachdem er im stillen inbrünstig gebetet
hatte: ›O Gott, verzeih mir um Christi willen!‹, schnitt er seinem
Freund mit einem Schnitt wie einem Hammel die Kehle durch und nahm ihm
die Uhr weg.«
Rogoschin schüttelte sich vor Lachen. Er lachte so heftig, als ob er
einen Anfall bekommen hätte. Es machte einen ganz seltsamen Eindruck,
dieses Lachen zu sehen, nachdem er sich kurz vorher in so düsterer
Stimmung befunden hatte.
»Das gefällt mir! Nein, das ist ja ganz vorzüglich!« schrie er
krampfhaft und fast außer Atem. »Der eine glaubt überhaupt nicht an
Gott, und der andere glaubt so sehr an ihn, daß er sogar bei der
Ermordung eines Menschen betet ... Nein, Bruder, das ist ja gar nicht
auszudenken! Hahaha! Nein, das ist köstlich!«
»Am andern Morgen ging ich aus und schlenderte durch die Stadt«,
fuhr der Fürst fort, sobald Rogoschin sich einigermaßen beruhigt hatte,
wiewohl das Lachen immer noch nach Art eines Krampfanfalls auf seinen
Lippen zuckte; »da sah ich, wie ein betrunkener Soldat in ganz wüstem
Zustand auf dem Holztrottoir umherschwankte. Er kam auf mich zu und
sagte: ›Herr, kaufe mir dieses silberne Kreuz ab; ich lasse es dir für
zwanzig Kopeken; es ist von Silber!‹ Ich sah, daß er in der Hand ein
Kreuz hielt, das er sich jedenfalls eben erst abgenommen hatte; es saß
an einem himmelblauen, stark abgenutzten Band, war aber, wie man auf
den ersten Blick sehen konnte, nur von Zinn, von großem Format, mit
acht Enden, nach einem echt byzantinischen Muster. Ich nahm ein
Zwanzigkopekenstück aus der Tasche und gab es ihm; das Kreuz aber band
ich mir sogleich um; dem Soldaten konnte man am Gesicht ansehen, wie er
sich freute, den dummen Herrn geprellt zu haben; er ging schleunigst
davon, ohne Zweifel um den Erlös für sein Kreuz zu vertrinken. Auf
mich, Bruder, machte damals all das, was in Rußland massenhaft auf mich
eindrang, einen sehr starken Eindruck; ich hatte in meinem Heimatland
vorher für nichts Verständnis gehabt, war wie ein Blinder aufgewachsen,
und meine Erinnerungen an Rußland während der fünf Jahre meines
Aufenthalts im Ausland waren höchst phantastischer Art gewesen. Da
wanderte ich also weiter und dachte: ›Nein, ich will über diesen
Soldaten, der seinen Christus verkauft hat, doch noch nicht den Stab
brechen. Gott weiß, was für Gefühle sich in den schwachen Herzen dieser
betrunkenen Menschen regen.‹ Als ich eine Stunde darauf in mein
Gasthaus zurückkehrte, stieß ich auf eine Bauersfrau mit einem
Säugling. Es war eine noch junge Frau; das Kind mochte etwa sechs
Wochen alt sein. Das Kind lächelte sie an, nach ihrer Wahrnehmung zum
erstenmal seit seiner Geburt. Ich sah, daß sie sich auf einmal mit dem
Ausdruck größter Frömmigkeit bekreuzte. ›Was hast du denn, junge Frau?‹
fragte ich; ich erkundigte mich nämlich damals nach allem, was mir
auffiel. ›Ach‹, sagte sie, ›ebenso wie sich eine Mutter freut, wenn sie
ihr Kind zum erstenmal lächeln sieht, ganz ebenso wird sich gewiß auch
Gott jedesmal freuen, wenn er vom Himmel sieht, daß ein Sünder von
ganzem Herzen betet.‹ Das sagte die Bauersfrau zu mir, fast mit diesen
selben Worten, und sprach damit einen überaus tiefen, feinen, echt
religiösen Gedanken aus, einen Gedanken, in dem das ganze Wesen des
Christentums zugleich zum
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