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Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
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die aus Gnaden in das
Haus aufgenommen war, und strickte schweigend einen Strumpf. Sie
schienen beide die ganze Zeit her geschwiegen zu haben. Als die erste
Alte Rogoschin und den Fürsten erblickte, lächelte sie ihnen zu und
nickte zum Zeichen ihres Vergnügens mehrmals freundlich mit dem Kopf.
    »Mütterchen«, sagte Rogoschin, ihr die Hand küssend, »hier ist ein
guter Freund von mir, Fürst Ljow Nikolajewitsch Myschkin; er und ich
haben miteinander die Kreuze getauscht; er hat sich eine ganze Zeitlang
in Moskau wie ein Bruder gegen mich benommen und viel für mich getan.
Segne ihn, Mütterchen, wie du deinen eigenen Sohn segnen würdest!
Warte, liebe Alte! So! Laß mich dir die Hand zurechtmachen ...«
    Aber noch ehe Parfen Zeit hatte dies auszuführen, hob die alte Frau
ihre rechte Hand in die Höhe, legte drei Finger derselben zusammen und
bekreuzte den Fürsten dreimal andächtig. Darauf nickte sie ihm noch
einmal freundlich und zärtlich mit dem Kopf zu.
    »Nun wollen wir wieder gehen, Ljow Nikolajewitsch!« sagte Parfen. »Ich hatte dich nur zu diesem Zweck hergeführt ...«
    Als sie wieder auf die Treppe hinaustraten, fügte er hinzu:
    »Sie versteht ja nichts, was man zu ihr sagt, und hat auch von
meinen Worten nichts verstanden; aber sie hat dich doch gesegnet; da
muß es doch ihr eigener Wunsch gewesen sein ... Nun aber leb wohl; du
und ich haben beide keine Zeit mehr.«
    Damit öffnete er die Tür, die zu seiner Wohnung führte.
    »So laß dich doch wenigstens zum Abschied umarmen, du wunderlicher
Mensch!« rief der Fürst, indem er ihn mit zärtlichem Vorwurf anblickte,
und wollte ihn umarmen.
    Aber Parfen hatte kaum dazu angesetzt, die Arme zu erheben, als er
sie auch sogleich wieder sinken ließ. Er konnte sich nicht dazu
entschließen; er wandte sich ab, um den Fürsten nicht anzusehen. Er
wollte ihn nicht umarmen.
    »Hab keine Angst! Ich habe dir zwar dein Kreuz weggenommen, werde
dich aber nicht um einer Uhr willen ermorden!« murmelte er undeutlich
und lachte auf einmal seltsam auf.
    Aber plötzlich verwandelte sich sein ganzes Gesicht: er wurde
schrecklich blaß, seine Lippen fingen an zu zittern, seine Augen
flammten auf. Er hob die Arme in die Höhe, umarmte den Fürsten mit
festem Druck und sagte keuchend:
    »So nimm sie denn hin, wenn das Schicksal es einmal so will! Sie sei dein! Ich trete sie dir ab ...! Vergiß Rogoschin nicht!«
    Er wandte sich von dem Fürsten ab, ging, ohne noch einmal nach ihm
hinzublicken, in seine Wohnung und schlug die Tür hinter sich zu.

V
    Es war schon spät, fast halb drei, und der Fürst traf den General
Jepantschin nicht mehr zu Hause. Er ließ seine Karte zurück und
entschied sich dafür, nach dem Gasthaus »Zur Waage« zu gehen und dort
nach Kolja zu fragen und, wenn er nicht dort sei, ihm ein Briefchen
zurückzulassen. In der »Waage« wurde ihm gesagt, Nikolai
Ardalionowitsch sei schon am Morgen weggegangen, habe aber beim
Weggehen die Weisung hinterlassen, wenn etwa jemand nach ihm frage,
solle man sagen, daß er wohl um drei Uhr zurück sein werde. Wenn er um
halb vier noch nicht wieder da sei, sei er mit der Bahn nach Pawlowsk
gefahren, nach dem Landhaus der Generalin Jepantschina, und werde dort
auch zum Essen bleiben. Der Fürst setzte sich hin, um auf ihn zu
warten, und benutzte die Zeit, um sich etwas zum Mittagessen geben zu
lassen.
    Um halb vier und selbst um vier Uhr war Kolja noch nicht erschienen.
Der Fürst ging weg und wanderte mechanisch umher, wohin ihn die Füße
trugen. Zu Anfang des Sommers kommen in Petersburg manchmal
wunderschöne Tage vor, helle, warme, stille Tage. Es traf sich, daß
dieser Tag gerade einer von jenen seltenen Tagen war. Eine Zeitlang
schweifte der Fürst ziellos umher. Die Stadt war ihm nur wenig bekannt.
Er blieb manchmal an Straßenkreuzungen, vor diesem oder jenem Haus, auf
Plätzen und auf Brücken stehen; einmal ging er auch, um sich
auszuruhen, in eine Konditorei. Mitunter begann er mit größtem
Interesse die Passanten zu betrachten; aber meist achtete er weder auf
die Passanten noch darauf, wo er ging. Er befand sich in einem Zustand
peinlicher Spannung und Unruhe und fühlte gleichzeitig ein ungewöhnlich
starkes Verlangen nach Einsamkeit. Er wollte gern allein sein und sich
dieser qualvollen Spannung ganz passiv überlassen, ohne im geringsten
nach einem Ausweg aus diesem Zustand zu suchen. Er empfand einen
Widerwillen dagegen, sich an die Lösung der Fragen heranzumachen, die
auf seine Seele und auf

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