Der Idiot
Ausdruck kommt, das heißt die Vorstellung von
Gott als unserem Vater und von der Freude Gottes über den Menschen, die
der Freude eines Vaters über sein Kind gleicht – der eigentliche
Kernpunkt dessen, was Christus gesagt hat. Eine einfache Bauersfrau!
Allerdings war es eine Mutter ... und wer weiß, vielleicht war sie die
Frau jenes Soldaten. Höre, Parfen, du fragtest mich vorhin; da hast du
meine Antwort: das Wesen des religiösen Gefühls wird weder durch
vernunftmäßige Überlegungen, noch durch Vergehungen und Verbrechen,
noch durch atheistische Anschauungen berührt; es ist etwas
Andersartiges und wird in alle Ewigkeit etwas Andersartiges sein; die
Lehren des Atheismus werden in alle Ewigkeit davon abgleiten, und die
Atheisten werden in ihren Disputationen in alle Ewigkeit dran
vorbeireden. Die Hauptsache aber ist, daß man dies am klarsten und
schnellsten an der russischen Seele erkennt; das ist das Resultat
meiner Beobachtungen! Das ist eine der ersten Überzeugungen, die ich
bei uns in Rußland gewonnen habe. Hier läßt sich etwas ausrichten,
Parfen; es läßt sich vieles ausrichten auf unserem russischen Boden,
glaube mir! Erinnere dich, wie wir eine Zeitlang in Moskau zusammen
lebten und öfters miteinander darüber sprachen ... Und ich hatte gar
nicht vorgehabt, jetzt hierher zurückzukehren! Ich hatte mir die
Wiederbegegnung mit dir ganz, ganz anders ausgemalt! Na, was hilft's
...? Leb wohl, auf Wiedersehen! Gott behüte dich!«
Er wendete sich um und stieg die Treppe hinunter.
»Ljow Nikolajewitsch!« rief Parfen dem Fürsten von oben nach, als
dieser zum ersten Treppenabsatz gelangt war; »hast du das Kreuz, das du
von dem Soldaten gekauft hast, bei dir?«
»Ja.« Der Fürst blieb wieder stehen.
»Zeig es doch einmal her!«
Wieder eine neue Absonderlichkeit! Der Fürst überlegte einen
Augenblick, stieg dann wieder hinauf, zog das Kreuz heraus und zeigte
es ihm, ohne es vom Hals abzunehmen.
»Gib es mir!« sagte Rogoschin.
»Wozu? Hast du denn ...«
Der Fürst mochte sich nicht gern von diesem Kreuz trennen.
»Ich will es tragen, und meines will ich dir geben; das trage du dann!«
»Du willst, daß wir die Kreuze tauschen? Schön, Parfen; wenn du es
so meinst, dann freue ich mich; wir wollen Kreuzbrüder werden!«
Der Fürst nahm sein zinnernes Kreuz ab, Parfen sein goldenes, und
sie tauschten miteinander. Parfen schwieg. Erstaunt und betrübt
bemerkte der Fürst, daß das frühere Mißtrauen und das frühere bittere,
spöttische Lächeln von dem Gesicht seines neuen Kreuzbruders immer noch
nicht geschwunden waren, sondern wenigstens in einzelnen Augenblicken
immer wieder stark sichtbar wurden. Schweigend ergriff Rogoschin
endlich die Hand des Fürsten und stand eine Weile da, als ob er sich zu
etwas nicht entschließen könnte; endlich zog er ihn auf einmal hinter
sich her, indem er kaum hörbar sagte: »Komm!« Sie gingen quer über den
Treppenflur und klingelten an einer Tür, die derjenigen, aus welcher
sie herausgekommen waren, gerade gegenüber lag. Es wurde ihnen bald
geöffnet. Eine alte, ganz zusammengekrümmte Frau in schwarzem Kleid,
mit einem Tuch um den Kopf, verbeugte sich schweigend tief vor
Rogoschin; dieser sagte schnell ein paar Worte zu ihr und führte, ohne
stehenzubleiben und eine Antwort abzuwarten, den Fürsten in die Wohnung
hinein. Wieder durchschritten sie dunkle Zimmer von einer
außerordentlichen, sozusagen kalten Sauberkeit; auch die altertümlichen
Möbel in ihren weißen, reinen Überzügen machten einen kalten, trüben
Eindruck. Ohne Anmeldung führte Rogoschin den Fürsten geradewegs in ein
kleines, salonartiges Zimmer; ein Teil desselben war durch eine
niedrige Zwischenwand von glänzendem Mahagoniholz mit je einer Tür
rechts und links abgeschlagen; der dahinterliegende Raum diente
wahrscheinlich als Schlafzimmer. In einer Ecke des Salons, am Ofen, saß
in einem Lehnstuhl eine kleine, ältere Frau, dem Anschein nach noch
nicht allzu bejahrt, sogar mit einem recht gesunden, angenehmen, runden
Gesicht, aber schon vollständig ergraut und (was man schon beim ersten
Blick erkennen konnte) ganz kindisch geworden. Sie trug ein
schwarzwollenes Kleid, ein großes, schwarzes Tuch um den Hals und eine
reine, weiße Haube mit schwarzen Bändern. Die Füße ruhten auf einem
Fußbänkchen. Neben ihr saß eine andere, sauber gekleidete, alte Frau,
älter als die erste, gleichfalls in Trauer und gleichfalls mit einer
weißen Haube, wahrscheinlich eine arme Person,
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