Der Idiot
mit ihm gleicher Meinung gewesen;
daran erinnerte er sich. Er erinnerte sich auch an den Kellner; dies
war ein kluger, junger Bursche von ernstem, vorsichtigem Wesen; »aber«,
sagte sich der Fürst, »Gott mag wissen, was er für ein Mensch ist; es
ist schwer, in einem neuen Land neue Menschen zu durchschauen.« An die
russische Seele begann er übrigens leidenschaftlich zu glauben. Oh,
viel, viel ihm ganz Neues, Ungeahntes, Unerwartetes hatte er in diesen
sechs Monaten kennengelernt! Aber eine fremde Seele, das ist ein
dunkles Rätsel; auch die russische Seele ist ein dunkles Rätsel,
wenigstens für viele Menschen. Da hatte er nun lange mit Rogoschin
verkehrt, nahe verkehrt, brüderlich verkehrt; aber kannte er Rogoschin
etwa? Welch ein Wirrwarr und wieviel Häßliches war manchmal in einer
Menschenseele, diesem Chaos, enthalten! Und was für ein garstiger,
selbstzufriedener Patron war dieser Lebedjewsche Neffe von vorhin!
»Aber was mache ich denn?« fuhr der Fürst in seinen Träumereien fort.
»Ist er es denn etwa gewesen, der diese sechs Menschen ermordet hat?
Ich scheine da etwas zu verwechseln ... wie sonderbar! Der Kopf ist mir
etwas schwindlig ... Aber was für ein sympathisches, liebes Gesicht hat
Lebedjews älteste Tochter, die, die mit dem Kind auf dem Arm dastand;
was für einen unschuldigen, kindlichen Ausdruck und was für ein
kindliches Lachen!« Seltsam, daß er dieses Gesicht bisher vergessen
hatte und es ihm erst jetzt wieder einfiel! Lebedjew, der die Seinigen
durch Trampeln mit den Füßen einschüchtern möchte, liebt sie
wahrscheinlich alle sehr. Und so sicher wie zwei mal zwei vier ist,
liebt Lebedjew auch seinen Neffen von Herzen!
Warum hat er sich übrigens beikommen lassen, über diese Leute so zu
urteilen, er, der doch erst heute angekommen ist? Wie kann er solche
Verdammungsurteile fällen? Da hat ihm gleich heute Lebedjew so ein
Problem geliefert: hat er denn etwa erwartet, in Lebedjew einen solchen
Menschen zu finden? Hat er etwa Lebedjew früher von dieser Seite
gekannt? Lebedjew und die Gräfin Dubarry – o Gott! Wenn übrigens
Rogoschin einen Mord begehen sollte, so wird er das wenigstens nicht in
so widerwärtiger Weise tun. Von einem solchen seelischen Chaos würde
bei ihm nicht die Rede sein. Ein nach einer Zeichnung bestelltes
Mordinstrument und sechs in völliges Delirium versetzte Menschen!
Besitzt etwa Rogoschin ein nach einer Zeichnung bestelltes
Mordinstrument ...? »Aber ... ist es denn bereits eine ausgemachte
Sache, daß Rogoschin einen Mord begehen wird?« dachte der Fürst und
zuckte dabei zusammen. »Ist es meinerseits nicht ein Verbrechen und
eine Gemeinheit, dies mit solcher zynischen Offenheit anzunehmen?« rief
er, und die Röte der Scham ergoß sich über sein Gesicht. Er war ganz
bestürzt und blieb wie angenagelt auf dem Weg stehen. Er erinnerte sich
an das, was ihm vor einem Weilchen auf dem Zarskojeseloer Bahnhof und
am Morgen auf dem Nikolai-Bahnhof begegnet war, und daran, wie er
Rogoschin gerade ins Gesicht nach den Augen gefragt hatte, und an
Rogoschins Kreuz, das er jetzt selbst trug, und wie ihn Rogoschins
Mutter gesegnet hatte, zu der er von diesem selbst hingeführt worden
war, und an die letzte krampfhafte Umarmung und den schließlichen
Verzicht Rogoschins auf der Treppe – und nach alledem ertappte er sich
nun dabei, wie er fortwährend um sich herum etwas suchte; und dann
dieser Laden und dieser Gegenstand ... was für eine Gemeinheit! Und
nach alledem ging er jetzt »mit einer besonderen Absicht, mit einem
besonderen plötzlichen Gedanken« dorthin! Verzweiflung und Leid
ergriffen seine ganze Seele. Der Fürst wollte unverzüglich umkehren und
nach seinem Gasthaus zurückgehen; er machte auch wirklich kehrt und
schlug diese Richtung ein; aber nach einer Minute blieb er wieder
stehen, überlegte, wendete um und setzte seinen früheren Weg fort.
Und jetzt befand er sich schon in der Peterburgskaja und war nahe
bei dem betreffenden Haus; jetzt ging er ja nicht mit der früheren
Absicht dorthin und nicht »mit dem besonderen Gedanken«! Wie wäre das
auch möglich! Ja, seine Krankheit kehrte wieder; das war unzweifelhaft;
vielleicht bekam er noch heute einen Anfall. Der bevorstehende Anfall
war auch die Ursache dieser ganzen seelischen Dunkelheit und dieses
»Gedankens«! Jetzt war die Dunkelheit zerstreut, der Dämon vertrieben;
es gab keine Zweifel mehr; in seinem Herzen herrschte eitel Freude! Und
... er hatte »sie« so lange nicht gesehen;
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