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Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
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sagen, daß diese Sekunde um des grenzenlosen
Glücks willen, das er voll und ganz empfinde, vielleicht das ganze
Leben wert sein könne.
    »In diesem Augenblick«, so hatte er zu Rogoschin in Moskau zur Zeit
ihrer häufigen Zusammenkünfte einmal gesagt, »in diesem Augenblick wird
mir jener auffallende Ausspruch verständlich, daß ›hinfort keine Zeit
mehr sein soll‹. 1 Wahrscheinlich«,
hatte er lächelnd hinzugefügt, »ist das dieselbe Sekunde, in der der
umgestoßene Wasserkrug des Epileptikers Mohammed nicht Zeit fand
auszufließen, während Mohammed in derselben Sekunde alle Wohnungen
Allahs beschaute.« Ja, er war in Moskau häufig mit Rogoschin
zusammengekommen und hatte mit ihm noch über viele andere Gegenstände
gesprochen. »Rogoschin hat vorhin gesagt, ich hätte damals an ihm wie
ein Bruder gehandelt; das hat er heute zum erstenmal gesagt«, dachte
der Fürst bei sich.
    Er hing diesen Gedanken nach, während er im Sommergarten unter einem
Baum auf einer Bank saß. Es war ungefähr sieben Uhr. Der Garten war
leer; ein dunkles Gewölbe umhüllte für einen Augenblick die
untergehende Sonne. Es war schwül, als ob ein Gewitter in noch ferner
Aussicht stände. In seinem jetzigen kontemplativen Zustand lag für ihn
etwas Verlockendes. Er klammerte sich mit seinen Erinnerungen und mit
seiner Denktätigkeit an jeden äußeren Gegenstand und tat dies gern und
eifrig, da er immer etwas Wirkliches, Gegenwärtiges vergessen wollte;
aber bei dem ersten Blick, den er um sich tat, erkannte er sofort
seinen traurigen Gedanken wieder, den Gedanken, von dem er so sehr
wünschte sich loszumachen. Er versuchte, sich daran zu erinnern, daß er
vorhin in dem Restaurant des Gasthauses beim Mittagessen mit dem
Kellner über einen kürzlich geschehenen, sehr eigenartigen Mord
gesprochen hatte, der viel Aufsehen erregte und zu vielen Gesprächen
Anlaß gab. Aber kaum hatte er diese Erinnerung in sich wachgerufen, als
ihm auf einmal wieder etwas ganz Besonderes begegnete.
    Ein außerordentliches, unbezwingliches Verlangen schlug, wie eine
dämonische Versuchung, auf einmal seine ganze Willenskraft in Bande. Er
stand von der Bank auf und ging aus dem Garten geradewegs in der
Richtung nach der Peterburgskaja zu. Er hatte vorhin auf dem Newa-Kai
einen Passanten gebeten, ihm den Weg über die Newa nach der
Peterburgskaja zu zeigen; das hatte dieser auch getan; aber der Fürst
war dann nicht dorthin gegangen. Und jedenfalls war es heute zwecklos,
hinzugehen; das wußte er. Die Adresse hatte er allerdings schon lange
und konnte somit das Haus der Schwägerin Lebedjews leicht finden; aber
er wußte beinah sicher, daß er sie nicht zu Hause treffen würde. »Sie
ist jedenfalls nach Pawlowsk gefahren; sonst hätte Kolja der Abrede
gemäß etwas in der ›Waage‹ hinterlassen.« Wenn er also jetzt hinging,
so tat er das sicherlich nicht, um sie zu sehen. Eine andere, trübe,
qualvolle Wißbegierde lockte ihn dorthin. Ein neuer, plötzlicher
Gedanke war ihm gekommen ...
    Aber es genügte ihm vollkommen, daß er ging und wußte, wohin er
ging: einen Augenblick nach dem Entschluß war er bereits in Bewegung,
fast ohne auf seinen Weg zu achten. Seinen »plötzlichen Gedanken«
länger zu überlegen, wurde ihm sofort furchtbar widerwärtig und beinah
unmöglich. Mit qualvoll angestrengter Aufmerksamkeit betrachtete er
alles, was ihm vor die Augen kam, den Himmel, die Newa. Er fing ein
Gespräch mit einem ihm begegnenden kleinen Kind an. Vielleicht
steigerte sich auch sein epileptischer Zustand immer mehr und mehr. Das
Gewitter schien wirklich heraufzuziehen, wiewohl nur langsam. In der
Ferne begann es schon zu donnern. Es wurde sehr schwül ...
    Wie einem manchmal eine Melodie nicht aus dem Kopf geht, obwohl sie
einem zum Ekel geworden ist, so mußte er jetzt aus nicht recht
verständlichem Grund fortwährend an Lebedjews Neffen denken, den er vor
einigen Stunden kennengelernt hatte. Seltsam war, daß dieser ihm immer
in der Gestalt jenes Mörders ins Gedächtnis kam, dessen damals Lebedjew
selbst Erwähnung getan hatte, als er ihm seinen Neffen vorstellte. Ja,
von diesem Mörder hatte er noch vor ganz kurzer Zeit in der Zeitung
gelesen. Über derartige Dinge hatte er seit seiner Rückkehr nach
Rußland vieles gelesen und gehört und all diese Geschichten eifrig
verfolgt. So hatte er vor einer Weile auch in dem Gespräch mit dem
Kellner gerade für diesen Mörder der Familie Schemarin ein lebhaftes
Interesse bekundet. Der Kellner war

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