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Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
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es war ihm Bedürfnis, sie
wiederzusehen; und ... ja, jetzt würde er wünschen, Rogoschin zu
treffen; er würde ihn bei der Hand nehmen, und sie würden zusammen
hingehen ... Sein Herz war rein; war er denn etwa Rogoschins
Nebenbuhler? Morgen wird er selbst zu Rogoschin gehen und ihm sagen,
daß er sie gesehen hat. Er ist ja, wie Rogoschin vorhin gesagt hat, nur
um sie zu sehen, hierher geeilt! Möglicherweise trifft er sie zu Hause;
es ist ja doch nicht sicher, daß sie sich in Pawlowsk befindet!
    Ja, das alles mußte jetzt klargestellt werden, damit ein jeder
deutlich in dem Herzen des andern lesen konnte und es keine düsteren,
leidenschaftlichen Verzichte mehr gab, wie vor einer Weile Rogoschins
Verzicht; nein, alles mußte sich frei und und im Hellen vollziehen. War
denn Rogoschin nicht fähig, ein Leben im Hellen zu führen? Er sagte, er
liebe sie in anderer Weise; er habe mit ihr keinerlei derartiges
Mitleid. Allerdings fügte er dann noch hinzu: »Dein Mitleid ist
vielleicht noch größer als meine Liebe«; aber damit verleumdet er sich
selbst. Hm ...! Rogoschin bei einem Buch ..., ist das nicht schon
»Mitleid«, nicht ein Anfang von »Mitleid«? Beweist nicht schon das
Vorhandensein dieses Buches in seinem Besitz, daß er sich seines
Verhältnisses zu ihr voll bewußt ist? Und seine Erzählung von vorhin?
Nein, das ist ein tieferes Gefühl als eine bloße Leidenschaft. Und
flößt denn ihr Gesicht nur Leidenschaft ein? Und kann dieses Gesicht
jetzt überhaupt Leidenschaft einflößen? Es erweckt Schmerz; es ergreift
die ganze Seele; es ... Eine brennende, qualvolle Erinnerung zog dem
Fürsten plötzlich das Herz zusammen.
    Ja, eine qualvolle Erinnerung! Er erinnerte sich daran, welche Qual
es kürzlich für ihn gewesen war, als er zum erstenmal an ihr Anzeichen
einer geistigen Störung wahrgenommen hatte. Er war damals beinah in
Verzweiflung geraten. Und wie hatte er sie nur allein weglassen können,
als sie damals von ihm zu Rogoschin geflüchtet war! Er hätte ihr selbst
nacheilen müssen, statt nur auf Nachrichten zu warten. Aber ... hat
denn Rogoschin an ihr bisher noch nichts von geistiger Störung bemerkt?
Hm ...! Rogoschin sieht in allem andere Ursachen, vermutet als Ursachen
immer Leidenschaften! Und was für eine sinnlose Eifersucht! Was wollte
er vorhin mit seiner Annahme sagen?
    (Der Fürst errötete plötzlich, und sein Herz zuckte zusammen.)
    Aber welchen Zweck hatte es, sich an all dies zu erinnern? Sie waren
beide so gut wie irrsinnig, er und Rogoschin. Aber für ihn, den
Fürsten, wäre es beinah ein Ding der Unmöglichkeit, diese Frau
leidenschaftlich zu lieben; es wäre beinah eine Grausamkeit, eine
Unmenschlichkeit. Ja, ja! Nein, Rogoschin verleumdet sich selbst; er
hat ein großes Herz, das leiden und Mitleid empfinden kann. Wenn er die
ganze Wahrheit erkennt und sich überzeugt, was für ein
bemitleidenswertes Geschöpf diese schwer geschädigte, halbirre Frau
ist, wird er ihr dann nicht alles Vergangene, alle seine Qualen
verzeihen? Wird er nicht ihr Diener, ihr Bruder, ihr Freund, ihre
Vorsehung werden? Das Mitleid wird ihn zur Einsicht bringen, ihn
belehren. Das Mitleid ist das wichtigste und vielleicht das einzige
Gesetz für die Existenz der ganzen Menschheit. Oh, in welcher
unverzeihlichen, ehrlosen Weise hat er sich Rogoschin gegenüber
schuldig gemacht! Nein, nicht die russische Seele ist ein dunkles
Rätsel, sondern in seiner eigenen Seele muß ein dunkles Rätsel sein,
wenn er sich etwas so Schreckliches vorstellen kann. Wegen einiger
warmen, herzlichen Worte in Moskau nennt ihn Rogoschin schon seinen
Bruder, und er ... Aber das war alles Krankheit und Fieber! Das wird
sich alles lösen ...! Wie finster hat Rogoschin vorhin gesagt, daß er
seinen Glauben verliere! Dieser Mensch leidet gewiß furchtbar. Er sagt,
er betrachte dieses Bild gern; aber gern tut er es wohl nicht, sondern
er empfindet ein Bedürfnis danach. Rogoschin ist nicht nur eine
leidenschaftliche Natur; er ist auch ein Kämpfer: er will seinen
verlorenen Glauben mit Gewalt wiedergewinnen. Er bedarf dieses Glaubens
jetzt dringend und vermißt ihn qualvoll ... Ja, nur an etwas glauben!
Nur an jemand glauben! Aber wie seltsam doch dieses Holbeinsche Bild
ist ... Ah, da ist ja die Straße! Und da ist gewiß auch das Haus; ja,
es stimmt, Nr. 16, »Haus der Kollegiensekretärin Filisowa«. Hier! Der
Fürst klingelte und fragte nach Nastasja Filippowna.
    Die Hauswirtin, die selbst geöffnet hatte, antwortete ihm,

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