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Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
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mehr für den Laden und ging so schnell wie möglich von ihm weg.
Alles dies mußte er unter allen Umständen möglichst bald überdenken;
jetzt war es ihm klar, daß er auch auf dem Zarskojeseloer Bahnhof nicht
nur so eine leere Vorstellung gehabt hatte, sondern ihm unbedingt etwas
Wirkliches begegnet war, das mit all dieser seiner früheren Unruhe
zusammenhing. Aber der innerliche unüberwindliche Widerwille gewann
wieder die Oberhand; der Fürst mochte nichts überlegen und schickte
sich nicht an, es zu tun; er versank ganz in Gedanken an etwas anderes.
Er dachte unter anderm daran, daß es in seinem epileptischen Zustand
fast unmittelbar vor einem Anfall (falls der Anfall im Wachen eintrat)
eine Phase gegeben hatte, wo auf einmal mitten in der Traurigkeit und
der seelischen Finsternis und der Niedergeschlagenheit sein Gehirn für
Augenblicke gleichsam aufgeflammt war und all seine Lebenskräfte sich
plötzlich mit außergewöhnlicher Energie gespannt hatten. Die Empfindung
des Lebens und das Bewußtsein der eigenen Persönlichkeit verzehnfachten
sich in diesen Augenblicken, die nur die Dauer eines Blitzes hatten.
Verstand und Herz waren von einem ungewöhnlichen Licht durchleuchtet, all seine Aufregungen, all seine Zweifel, all seine
Beunruhigungen mit einem Schlag besänftigt, in eine höhere Ruhe voll
klarer, harmonischer Freude und Hoffnung, voll Verstand und Einsicht in
die letzten Gründe der Dinge aufgelöst. Aber diese Momente, diese
Lichtblitze waren nur Vorläufer jener letzten, entscheidenden Sekunde
(es war nie mehr als eine Sekunde), mit der der Anfall selbst begann.
Diese Sekunde war freilich unerträglich. Wenn er später, nach
Wiederkehr des Zustandes der Gesundheit, über diesen Augenblick
nachdachte, so sagte er sich oft, daß dieses Aufschimmern und
Aufblitzen eines erhöhten Selbstgefühls und Selbstbewußtseins und somit
auch eines »höheren Seins« nichts anderes sei als Krankheit, eine
Aufhebung des normalen Zustandes, und daß, wenn es sich so verhalte,
dies überhaupt kein höheres Sein sei, sondern ganz im Gegenteil zu der
allerniedrigsten Art des Seins gerechnet werden müsse. Und trotzdem
gelangte er schließlich zu einer höchst paradoxen Schlußfolgerung: »Was
liegt daran, daß dies Krankheit ist«, sagte er sich, »was liegt daran,
daß es eine nicht normale Anspannung ist, wenn das Resultat, der
Augenblick dieser Empfindung, demjenigen, der nach Wiederkehr des
Zustandes der Gesundheit sich daran erinnert und es überdenkt, als die
höchste Stufe der Harmonie und Schönheit erscheint und ihm ein bisher
ungeahntes Gefühl der Fülle, des Ebenmaßes, der Versöhnung und des
entzückten, gebetartigen Zusammenfließens mit der höchsten Synthese des
Lebens verleiht?« Diese nebelhaften Ausdrücke kamen ihm selbst sehr
verständlich vor und erschienen ihm nur als gar zu schwach. Daran, daß
dies tatsächlich »Schönheit und Gebet«, und »die höchste Synthese des
Lebens« sei, daran konnte er keinen Zweifel hegen und keinen Zweifel
für zulässig erachten. Es waren dies ja doch keine traumhaften
Visionen, wie sie die Folge des Genusses von Haschisch, Opium oder
Alkohol sind, unnatürliche, wesenlose Visionen, die die Denktätigkeit
herabsetzen und den Geist schädigen. Das konnte er nach Beendigung des
krankhaften Zustandes klar beurteilen. Diese Augenblicke waren vielmehr
gerade eine außerordentliche Steigerung des Selbstbewußtseins (wenn man
diesen Zustand kurz bezeichnen soll), des Selbstbewußtseins und
gleichzeitig eines im höchsten Grade unmittelbaren Selbstgefühls. Wenn
er in jener Sekunde, das heißt in dem letzten Augenblick des
Bewußtseins vor dem Anfall, manchmal noch die Möglichkeit fand, zu sich
selbst klar und mit Bewußtsein zu sagen: »Ja, für diesen Augenblick
könnte man das ganze Leben hingeben!«, so war dieser Augenblick
sicherlich das ganze Leben wert. Übrigens wollte er für die logische
Richtigkeit seines Schlusses nicht einstehen; der Stumpfsinn, die
seelische Finsternis, die Idiotie standen ihm als die deutliche Folge
jener höchsten Augenblicke nur zu klar vor Augen. Er würde darüber
natürlich nicht im Ernst disputiert haben. In seiner Schlußfolgerung,
das heißt in der Wertschätzung dieses Augenblicks, lag unzweifelhaft
ein Fehler; aber die Realität des Gefühles verwirrte ihn doch
einigermaßen. In der Tat, was war mit dieser Realität zu machen? Sie
existierte doch; er selbst hatte doch in eben jener Sekunde noch Zeit
gefunden, zu sich zu

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