Der Idiot
ja selbst, was er für ein Mensch ist, ein kranker Mensch!«
Lisaweta Prokofjewna kam im stillen zu der endgültigen Überzeugung,
daß er als Bräutigam unmöglich sei, und nahm sich beim Schlafengehen
vor, solange sie lebe, solle der Fürst nicht der Mann ihrer Aglaja
werden. Mit diesem Entschluß stand sie auch am Morgen auf. Aber noch an
demselben Vormittag zwischen zwölf und ein Uhr, beim Frühstück, setzte
sie sich in einen wunderlichen Widerspruch zu sich selbst.
Auf eine, übrigens sehr behutsame Frage der Schwestern antwortete
Aglaja kalt und hochmütig, als wolle sie die Sache damit abtun:
»Ich habe ihm nie mein Wort gegeben und ihn nie in meinem Leben als
meinen Bräutigam betrachtet. Er steht mir ebenso fern wie jeder andere.«
Da fuhr Lisaweta Prokofjewna plötzlich auf.
»Das hatte ich nicht von dir erwartet«, sagte sie gekränkt. »Daß er
als Bräutigam unmöglich ist, das weiß ich, und Gott sei Dank, daß es so
gekommen ist; aber von dir hätte ich solche Reden nicht erwartet. Ich
hatte geglaubt, du würdest dich anders dazu stellen. Ich würde am
liebsten alle, die gestern hier waren, fortjagen und ihn allein
dabehalten; so ein Mensch ist das ...!«
Hier brach sie plötzlich ab, da sie selbst über das, was sie gesagt
hatte, einen Schreck bekam. Aber wenn sie gewußt hätte, wie sehr sie
ihrer Tochter in diesem Augenblick Unrecht tat! Aglaja hatte sich in
ihrem Kopf schon alles zurechtgelegt; auch sie wartete auf ihre Stunde,
die alles entscheiden sollte, und jede Andeutung, jede unvorsichtige
Berührung schlug ihrem Herzen eine tiefe Wunde.
VIII
Auch für den Fürsten begann dieser Tag damit, daß er sich von üblen
Ahnungen bedrückt fühlte; diese ließen sich ja zwar durch seinen
krankhaften Zustand erklären, aber seine Traurigkeit hatte doch einen
gar zu unbestimmten Charakter, und das war für ihn das Qualvollste.
Allerdings standen ihm bestimmte Tatsachen deutlich vor Augen,
schmerzliche, peinliche Tatsachen; aber seine Traurigkeit ging doch
über alles hinaus, was ihm Gedächtnis und Denkkraft als Stoff dafür
darboten; er sah ein, daß er sich nicht beruhigen werde, wenn er allein
bliebe. Allmählich setzte sich in seinem Kopf die Erwartung fest, daß
sich noch an diesem Tag mit ihm etwas Besonderes und Entscheidendes
begeben werde. Der Anfall, den er tags zuvor gehabt hatte, war von
leichterer Art gewesen: außer einer starken Niedergeschlagenheit, einer
gewissen Schwere im Kopf und einen Schmerz in den Gliedern fühlte er
keine andere gesundheitliche Störung. Sein Kopf arbeitete durchaus
normal, obgleich die Seele krank war. Er stand sehr spät auf und
erinnerte sich sofort mit aller Deutlichkeit an den gestrigen Abend;
auch daran erinnerte er sich, wenn auch nicht ganz klar, daß man ihn
eine halbe Stunde nach dem Anfall nach Hause gebracht hatte. Er erfuhr,
daß bereits ein Bote von Jepantschins bei ihm erschienen war, um nach
seinem Befinden zu fragen. Um halb zwölf erschien ein zweiter; das
freute ihn. Wjera Lebedjewa war die erste, die ihn besuchte und für
seine Bedürfnisse sorgte. Im ersten Augenblick, als sie ihn erblickte,
fing sie auf einmal an zu weinen; aber als der Fürst sie sofort
beruhigte, lachte sie auf. Ihn überraschte das starke Mitgefühl, das
dieses Mädchen für ihn empfand; er ergriff ihre Hand und küßte sie ihr.
Wjera errötete.
»Ach, was tun Sie, was tun Sie!« rief sie erschrocken und zog schnell ihre Hand weg.
Sie ging in seltsamer Aufregung bald wieder weg. Unter anderm hatte
sie ihm erzählt, ihr Vater sei an diesem Tag schon ganz frühmorgens zu
dem »Dahingeschiedenen« gelaufen, wie er den General nannte, um
nachzufragen, ob er in der Nacht gestorben sei; es verlaute, er werde
wahrscheinlich bald sterben. Kurz vor zwölf Uhr kam auch Lebedjew
selbst nach Hause und zum Fürsten, aber eigentlich »nur auf einen
Augenblick, um sich nach dem kostbaren Befinden zu erkundigen«, und so
weiter und außerdem dem »Schränkchen« einen Besuch abzustatten. Da er
nichts anderes tat als ächzen und stöhnen, so machte der Fürst, daß er
ihn bald wieder los wurde; aber Lebedjew versuchte doch noch, sich nach
dem gestrigen Anfall zu erkundigen, obgleich er offenbar darüber
bereits in allen Einzelheiten orientiert war. Nach ihm kam Kolja
herangelaufen, ebenfalls nur auf einen Augenblick; dieser hatte es
wirklich eilig und befand sich in einer starken düsteren Unruhe. Er
begann damit, daß er den Fürsten geradezu und inständig bat, ihm
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