Der Idiot
geh ein
bißchen spazieren und lege dich dann wieder schlafen; das ist mein Rat.
Und wenn du magst, so besuche uns wie früher; sei ein für allemal
versichert, daß, was sich auch ereignen und begeben mag, du doch immer
ein Freund unseres Hauses bleibst, wenigstens mein Freund. Für mich
wenigstens kann ich einstehen ...«
Auf diese Herausforderung reagierten alle und schlossen sich den von
der Mama ausgesprochenen Empfindungen an. Sie gingen fort; aber in
Lisaweta Prokofjewnas gutmütiger Eile, etwas Freundliches und
Ermutigendes zu sagen, hatte doch eine arge Grausamkeit verborgen
gelegen, was ihr gar nicht zum Bewußtsein gekommen war. In der
Einladung, »wie früher« zu kommen, und in den Worten »wenigstens mein
Freund« hatte wieder ein Art Voraussagung gelegen. Der Fürst rief sich
Aglajas Verhalten ins Gedächtnis zurück; gewiß, sie hatte ihm sehr
freundlich zugelächelt, beim Kommen und beim Abschied, hatte aber kein
Wort gesagt, nicht einmal da, als alle ihm ihre Freundschaft
versicherten, obgleich sie ihn zweimal unverwandt angesehen hatte. Ihr
Gesicht war ungewöhnlich blaß gewesen, wie wenn sie in der Nacht
schlecht geschlafen gehabt hätte. Der Fürst nahm sich vor, am Abend
unbedingt »wie früher« zu ihnen zu gehen, und blickte in fieberhafter
Erregung nach der Uhr.
Da trat, gerade drei Minuten, nachdem Jepantschins weggegangen waren, Wjera ins Zimmer.
»Ljow Nikolajewitsch, Aglaja Iwanowna hat mir soeben heimlich eine Bestellung an Sie aufgetragen.«
Der Fürst begann stark zu zittern. »Ein Billett?«
»Nein, eine mündliche Bestellung; auch dazu hatte sie nur knapp
Zeit. Sie läßt Sie dringend bitten, heute den ganzen Tag das Haus auch
nicht eine Minute zu verlassen, bis sieben Uhr abends, oder sogar bis
neun Uhr; das habe ich nicht ganz deutlich gehört.«
»Ja ... warum denn? Was bedeutet das?«
»Das weiß ich nicht; aber sie hat mir aufs strengste befohlen, es auszurichten.«
»Hat sie den Ausdruck ›aufs strengste‹ gebraucht?«
»Nein, so geradezu hat sie es nicht gesagt; sie hatte kaum Zeit sich
umzudrehen und es mir zu sagen; zum Glück sprang ich selbst noch
schnell zu ihr heran. Aber schon an ihrem Gesicht war zu sehen, wie sie
es befahl: ob aufs strengste oder nicht. Sie sah mich so an, daß mir
beinah das Herz stehenblieb ...«
Der Fürst richtete noch einige Fragen an Wjera, und obgleich er
nichts weiter erfuhr, beunruhigte er sich nun noch mehr. Als er allein
geblieben war, legte er sich auf das Sofa und fing wieder an
nachzudenken. »Vielleicht ist heute jemand bis neun Uhr bei ihnen, und
sie fürchtet wieder, daß ich in Gegenwart der Gäste etwas anrichte«,
dachte er endlich und begann wieder ungeduldig auf den Abend zu warten
und nach der Uhr zu sehen. Aber die Auflösung des Rätsels erfolgte
erheblich früher als am Abend, und ebenfalls in Form eines neuen
Besuches, und diese Auflösung hatte die Gestalt eines neuen qualvollen
Rätsels: genau eine halbe Stunde, nachdem Jepantschins weggegangen
waren, trat Ippolit bei ihm ein, dermaßen müde und erschöpft, daß er
beim Eintritt, ohne ein Wort zu sagen, wie besinnungslos auf einen
Sessel niederfiel und sofort einen entsetzlichen Hustenanfall bekam. Er
hustete so, daß er Blut auswarf. Seine Augen funkelten, und rote
Flecken brannten auf seinen Backen. Der Fürst murmelte ihm etwas zu;
aber er antwortete nicht und winkte noch lange, ohne zu antworten, nur
mit der Hand ab, der Fürst möchte ihn vorläufig in Ruhe lassen. Endlich
kam er wieder zu sich.
»Ich werde gleich davongehen!« brachte er endlich unter großen Anstrengungen mit heiserer Stimme heraus.
»Wenn Sie wollen, werde ich Sie nach Hause bringen«, sagte der Fürst
und erhob sich von seinem Platz; aber er verstummte schnell, da ihm
einfiel, daß ihm soeben verboten war, das Haus zu verlassen.
Ippolit lachte.
»Ich meine nicht, daß ich von Ihnen weggehen will«, fuhr er,
beständig hüstelnd und mit Atemnot kämpfend, fort. »Ich habe es
vielmehr nötig gefunden, zu Ihnen zu kommen, in einer ernsten
Angelegenheit ... sonst hätte ich Sie nicht belästigt. Ich will in das
unbekannte Land gehen, und diesmal scheint es ernst zu sein. Ich bin
kaputt! Glauben Sie mir, ich sage das nicht, um mich bedauern zu lassen
... ich hatte mich heute gegen zehn Uhr schon hingelegt, um vor dem
Jüngsten Tag überhaupt nicht mehr aufzustehen; aber ich habe meine
Absicht geändert und bin noch einmal aufgestanden, um zu Ihnen zu
kommen ... also muß es wohl etwas
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