Der Idiot
oder für ein Pensionsfräulein; ich habe darüber schon mit ihr gesprochen, und sie schien meiner Ansicht zu sein. Passen Sie um sieben oder acht Uhr auf ... Ich würde an Ihrer Stelle jemand dorthin schicken, um Wache zu halten, damit Sie genau den Augenblick abpassen, wo sie aus der Haustür tritt. Schicken Sie doch Kolja hin; Sie können sicher sein, daß er mit Vergnügen Spionsdienste leisten wird, das heißt für Sie ... denn diese moralischen Dinge haben alle nur einen relativen Wert ... Haha!«
Ippolit ging hinaus. Der Fürst sah keinen Anlaß dazu, jemand um Spionsdienste zu ersuchen, selbst wenn er dazu fähig gewesen wäre. Aglajas Befehl, er solle zu Hause bleiben, war jetzt beinah aufgeklärt: vielleicht wollte sie ihn abholen. Denkbar war allerdings auch, daß sie nicht wünschte, daß er durch irgendeinen Zufall dorthin geriete, und ihm deshalb befohlen hatte, zu Hause zu bleiben ...
Auch das war möglich. Der Kopf schwindelte ihm; das ganze Zimmer drehte sich um ihn. Er legte sich auf das Sofa und schloß die Augen.
So oder so, jedenfalls kam die Sache jetzt zur Entscheidung, zum Abschluß. Nein, der Fürst hielt Aglaja nicht für ein Modedämchen oder für ein Pensionsfräulein; er fühlte jetzt, daß er schon längst gerade etwas Derartiges gefürchtet hatte; aber zu welchem Zweck wollte sie mit Nastasja Filippowna zusammenkommen? Ein kalter Schauder lief ihm über den ganzen Leib; er fieberte wieder.
Nein, er hielt sie nicht für ein Kind! Manche ihrer Blicke, manche ihrer Worte hatten ihn in der letzten Zeit erschreckt. Manchmal war es ihm vorgekommen, als ob sie sich zu sehr Zwang antat, sich zu sehr zurückhielt, und er erinnerte sich, daß ihn das geängstigt hatte. Allerdings hatte er sich alle diese Tage her bemüht, nicht daran zu denken, hatte die bedrückenden Gedanken verscheucht; aber was lag in dieser Seele verborgen? Diese Frage hatte ihn schon lange gequält, obgleich er an diese Seele glaubte. Und nun sollte dies alles heute zur Entscheidung gelangen und aufgedeckt werden! Ein entsetzlicher Gedanke! Und dann auf der andern Seite »dieses Weib«! Warum hatte er nur immer die Vorstellung gehabt, daß dieses Weib gerade im letzten Augenblick erscheinen und sein ganzes Schicksal wie einen mürben Faden zerreißen werde? Daß er immer diese Vorstellung gehabt habe, das hätte er jetzt beschwören mögen, obgleich seine Gedanken fast so wirr waren wie im Fieber. Wenn er sich in der letzten Zeit bemüht hatte, »sie« zu vergessen, so hatte er das einzig und allein getan, weil er sie fürchtete. Wie stand es: liebte er dieses Weib, oder haßte er es? Diese Frage legte er sich heute kein einziges Mal vor; in dieser Hinsicht war sein Herz rein: er wußte, wen er liebte ... Er fürchtete nicht sowohl die Zusammenkunft der beiden, nicht die Seltsamkeit und den ihm unbekannten Grund dieser Zusammenkunft, nicht die Entscheidung, wie auch immer sie fallen mochte: er fürchtete Nastasja Filippowna selbst. Er erinnerte sich sogar später, nach einigen Tagen, daß ihm in diesen fieberhaften Stunden fast die ganze Zeit über ihre Augen und ihr Blick vor der Seele gestanden hatten, daß er ihre Worte, seltsame Worte, zu hören geglaubt hatte, obgleich nach diesen fieberhaften, kummervollen Stunden ihm nachher nur sehr wenig Erinnerung zurückgeblieben war. Er erinnerte sich zum Beispiel kaum daran, daß Wjera ihm das Mittagessen gebracht und er gegessen hatte; aber er erinnerte sich nicht, ob er nach dem Essen geschlafen hatte oder nicht. Er wußte nur, daß er an diesem Abend alles erst von dem Augenblick an völlig klar zu unterscheiden angefangen hatte, als Aglaja auf einmal zu ihm auf die Veranda gekommen und er vom Sofa aufgesprungen und in die Mitte des Raums getreten war, um sie zu begrüßen: es war ein Viertel auf acht. Aglaja war ganz allein; sie trug einfache Kleidung, die sie anscheinend in der Hast angelegt hatte, darüber einen leichten Burnus. Ihr Gesicht war blaß wie vorhin; aber ihre Augen funkelten in einem hellen, trockenen Glanz; einen solchen Ausdruck der Augen hatte er bisher nie an ihr kennengelernt. Sie blickte ihn aufmerksam an.
»Sie sind ganz fertig«, bemerkte sie leise und anscheinend ruhig; »angezogen und mit dem Hut in der Hand; also hat Sie jemand benachrichtigt, und ich weiß auch, wer: Ippolit?«
»Ja, er hat es mir gesagt ...«, murmelte der Fürst, beinah halbtot vor Aufregung.
»Nun, dann kommen Sie; Sie wissen, daß Sie mich unbedingt begleiten müssen.
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