Der Idiot
Endlich lächelte Rogoshin, aber etwas verlegen und verwirrt.
»Warum siehst du mich denn so unverwandt an?« murmelte er. »Setz dich doch!«
Der Fürst setzte sich.
»Parfen«, sagte er, »sag mir aufrichtig: wußtest du, daß ich heute nach Petersburg kommen würde?«
»Daß du herkommen würdest, habe ich mir gedacht«, versetzte Rogoshin. »Und wie du siehst, habe ich mich nicht geirrt«, fügte er boshaft lächelnd hinzu. »Aber woher hätte ich wissen sollen, daß du gerade heute kommen würdest?«
Die schroffe Heftigkeit und der seltsam gereizte Ton der an die Antwort angeschlossenen Frage befremdeten den Fürsten noch mehr.
»Aber selbst wenn du wußtest, daß ich heute kommen würde, so brauchst du doch nicht so gereizt zu sein«, sagte der Fürst leise, nicht ohne Verlegenheit.
»Warum fragtest du denn, ob ich es gewußt habe?«
»Als ich vorhin aus dem Bahnwagen stieg, sah ich zwei ganz ebensolche Augen auf mich gerichtet wie die, mit denen du mich soeben von hinten ansahst.«
»Na so was! Wessen Augen waren denn das?« murmelte Rogoshin argwöhnisch. Es schien dem Fürsten, als sei er zusammengezuckt.
»Ich weiß es nicht, es war einer aus der Menge, ich halte sogar für möglich, daß es mir nur so vorgekommen ist, dergleichen Täuschungen begegnen mir in letzter Zeit häufiger. Ich habe beinah dieselbe Empfindung, Bruder Parfen, wie ich sie vor fünf Jahren hatte, als ich noch meine Anfälle bekam.«
»Na also, vielleicht ist es dir nur so vorgekommen, ich weiß es nicht...«, murmelte Parfen.
Das freundliche Lächeln auf seinem Gesicht stand ihm in diesem Augenblick sehr schlecht; dieses Lächeln hatte sozusagen einen Sprung bekommen, und Parfen war trotz aller Bemühung nicht imstande, es wieder zusammenzukleben.
»Nun, willst du wieder ins Ausland gehen, ja?« fragte er und fügte plötzlich hinzu: »Erinnerst du dich noch, wie wir im Herbst auf der Bahn zusammen von Pskow hierherfuhren, du... im Mantel, weißt du noch, und in Gamaschen?«
Rogoshin lachte plötzlich laut auf, dieses Mal mit unverhohlener Feindseligkeit, und als freute er sich, daß es ihm gelungen war, diese Gesinnung wenigstens auf irgendeine Weise zum Ausdruck zu bringen.
»Wohnst du hier für die Dauer?« fragte der Fürst, indem er das Arbeitszimmer musterte.
»Ja, ich bin hier zu Hause. Wo sollte ich auch sonst hin?«
»Wir haben uns lange nicht gesehen. Ich habe von dir Dinge gehört, die dir gar nicht ähnlich sehen.«
»Was reden die Leute nicht alles!« bemerkte Rogoshin trocken.
»Aber du hast doch deine ganze Leibkohorte weggejagt und wohnst nun hier im elterlichen Haus und begehst keine tollen Streiche mehr. Das ist recht schön. Gehört das Haus dir oder euch allen gemeinsam?«
»Das Haus gehört der Mutter. Zu ihr geht es auf der andern Seite des Flurs.«
»Und wo wohnt dein Bruder?«
»Bruder Semjon Semjonytsch wohnt im Nebengebäude.«
»Ist er verheiratet?«
»Witwer. Wozu willst du das wissen?«
Der Fürst blickte vor sich hin und erwiderte nichts; er war plötzlich in Gedanken versunken und schien die Frage gar nicht gehört zu haben. Rogoshin drang nicht auf eine Antwort, sondern wartete ruhig. Sie schwiegen beide.
»Ich habe dein Haus, als ich näher kam, auf hundert Schritte als das deinige erkannt«, sagte der Fürst.
»Woran denn?«
»Das weiß ich nicht. Dein Haus hat die Physiognomie eurer ganzen Familie und eures ganzen Rogoshinschen Lebens; wenn du mich aber fragst, worauf sich diese meine Anschauung gründet, so kann ich dafür keine Erklärung geben. Es ist natürlich nur Einbildung. Ich bin sogar in Sorge darüber, daß mich solche Dinge so aufregen. Früher wäre mir gar nicht der Gedanke gekommen, daß du gerade in einem solchen Hause wohnen würdest, aber sowie ich es »Werdet ihr bald heiraten?«
»Du weißt ja selbst, daß das nicht von mir abhängt.«
»Parfen, ich bin nicht dein Feind und beabsichtige nicht, dir irgendwie hinderlich zu sein. Ich wiederhole dir das jetzt ebenso, wie ich es dir früher einmal in einem fast gleichen Augenblick ausgesprochen habe. Als in Moskau deine Hochzeit bevorstand, bin ich dir nicht hinderlich gewesen, das weißt du. Das erstemal kam sie selbst zu mir hingestürzt, unmittelbar vor der Trauung, und bat mich, sie vor dir zu ›retten‹. Ich wiederhole dir ihren eigenen Ausdruck. Dann ist sie auch von mir weggelaufen; du hast sie wieder ausfindig gemacht und zum Altar geführt, und da ist sie, wie es heißt, wieder von dir
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