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Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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Mitleid, nicht das geringste Mitleid mit diesen Dummköpfen, ich habe jetzt keines und habe es auch früher nicht gehabt, das sage ich mit Stolz! Warum ist er Mag immerhin, wer meine ›Erklärung‹ in die Hände bekommt und die Geduld hat, sie durchzulesen, mich für einen Geisteskranken halten oder auch für einen Gymnasiasten oder noch besser für einen zum Tode Verurteilten, der natürlich der Meinung sein muß, alle Menschen außer ihm selbst wüßten den Wert des Lebens zuwenig zu schätzen, hätten sich zu sehr gewöhnt, es zu vergeuden, genössen es zu träge und zu gewissenlos und seien somit allesamt seiner unwürdig! Mag man so denken! Ich erkläre, daß mein Leser sich irrt und daß meine Überzeugung in keiner Weise von meinem Todesurteil abhängig ist. Man frage doch nur die Menschen, worin sie alle, vom ersten bis zum letzten, das Glück sehen. Oh, man kann sicher sein, daß Kolumbus nicht damals glücklich war, als er Amerika entdeckt hatte, sondern als er es entdecken wollte; man kann sicher sein, daß sein Glück den Gipfelpunkt vielleicht drei Tage vor der Entdeckung der Neuen Welt erreicht hatte, als die meuternde Schiffsmannschaft in ihrer Verzweiflung nahe daran war, das Schiff wieder nach Europa zurückzusteuern! Nicht darauf kam es an, daß die Neue Welt wirklich entdeckt wurde, die hätte ruhig untergehen können. Kolumbus starb, fast ohne sie gesehen zu haben und, was die Hauptsache ist, ohne zu wissen, was er entdeckt hatte. Es kommt auf das Leben an, einzig und allein auf das Leben, darauf, daß man ununterbrochen, ewig damit beschäftigt ist zu entdecken, und ganz und gar nicht auf das Entdeckte selbst! Aber wozu rede ich! Ich fürchte, alles, was ich jetzt sage, hat eine solche Ähnlichkeit mit den landläufigsten Redensarten, daß man mich wahrscheinlich für einen Schüler der untersten Klasse halten wird, der seinen Aufsatz über den ›Sonnenaufgang‹ vorlegt, oder daß man sagen wird, ich hätte zwar etwas vorbringen wollen, beim besten Willen aber nicht verstanden, es zu ... ›entwickeln‹. Aber ich möchte doch hinzufügen, daß bei jedem genialen oder neuen menschlichen Gedanken oder einfach sogar bei jedem ernsten menschlichen Gedanken, der in irgendeinem Kopf entsteht, immer ein Rest übrigbleibt, den man andern Menschen nicht mitteilen kann, und wenn man ganze Bände vollschriebe und seinen Gedanken fünfunddreißig Jahre lang kommentierte; es bleibt immer ein Rest übrig, der nicht aus dem Schädel des Urhebers herausgehen will und ewig darinbleibt; und so stirbt man denn, ohne jemandem vielleicht gerade den Kernpunkt seines Gedankens mitgeteilt zu haben. Aber wenn ich auch gleichfalls nicht verstanden haben sollte, alles mitzuteilen, was mich in diesen sechs Monaten gequält hat, so werden die Leser wenigstens verstehen, daß ich meine jetzige ›letzte Überzeugung‹, zu der ich gelangt bin, vielleicht recht teuer bezahlt habe; ich habe in bestimmter Absicht für notwendig befunden, dies hier in meiner ›Erklärung‹ hervorzuheben. Indessen, ich fahre fort.«
VI
    »Ich will nicht lügen: die Wirklichkeit hat in diesen sechs Monaten auch nach mir ihre Angelhaken ausgeworfen und auf mich manchmal eine solche Anziehungskraft ausgeübt, daß ich mein Todesurteil vergaß oder, richtiger gesagt, nicht daran denken wollte und sogar anfing, tätig zu sein. Ich schiebe bei dieser Gelegenheit einige Worte über meine damalige Lage ein. Als ich vor acht Monaten schon recht krank wurde, brach ich alle meine Beziehungen ab und sagte mich von all meinen bisherigen Kameraden los. Da ich von jeher ein recht mürrischer Geselle gewesen war, so vergaßen sie mich leicht; natürlich hätten sie mich auch ohnedies vergessen. Auch zu Hause, das heißt ›in der Familie‹, stand ich einsam da. Vor etwa fünf Monaten schloß ich mich ein für allemal von den Meinigen ab und betrat seitdem die Zimmer der Familie gar nicht mehr. Die Meinigen gehorchten mir stets, und niemand wagte, zu mir hereinzukommen, außer um zu bestimmter Stunde das Zimmer aufzuräumen und mir das Mittagessen zu bringen. Meine Mutter nahm zitternd meine Befehle entgegen und wagte nicht einmal, vor meinen Ohren zu jammern, wenn ich mich mitunter entschloß, sie zu mir hereinzulassen. Die Kinder schlug sie um meinetwillen beständig, damit sie keinen Lärm machten und mich dadurch störten, denn ich beklagte mich oft über ihr Geschrei; ich kann mir denken, wie sie mich jetzt dafür lieben! Den ›treuen Kolja‹, wie

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