Der Idiot
Großvätern und Großmüttern hätte sich allenfalls eine entfernte Verwandtschaft annehmen lassen. Dieser trockene Gesprächsstoff gefiel der Generalin ganz ausnehmend, da sie fast nie Gelegenheit hatte, von ihrem Stammbaum zu sprechen, obwohl sie das sehr gern tat, und als sie vom Tisch aufstand, befand sie sich in angeregter Stimmung.
»Wir wollen jetzt alle in unser Gesellschaftszimmer gehen«, sagte sie, »und auch der Kaffee soll dorthin gebracht werden. Wir haben ein solches gemeinsames Zimmer«, wandte sie sich an den Fürsten, den sie führte. »Es ist ganz einfach mein kleiner Salon, wo wir, wenn kein Besuch da ist, uns zusammenfinden und jede von uns sich in ihrer Weise beschäftigt; Alexandra hier, meine älteste »Höchstwahrscheinlich verhält es sich so, ich merke das schon lange«, versetzte Aglaja. »Es ist häßlich von ihm, uns so eine Rolle vorzuspielen. Hofft er etwa, dadurch in unseren Augen zu gewinnen?«
»Der erste Eindruck war sehr stark«, sagte der Fürst noch einmal. »Als man mich aus Rußland wegbrachte und wir durch verschiedene deutsche Städte fuhren, blickte ich alles nur schweigend an und erkundigte mich, soviel ich mich erinnern kann, nach nichts. Das war nach einer Reihe starker, qualvoller Anfälle meiner Krankheit; jedesmal aber, wenn die Krankheit sich in dieser Weise steigerte und die Anfälle mehrmals hintereinander erfolgten, verfiel ich in vollständigen Stumpfsinn, verlor gänzlich das Gedächtnis, und wenn auch der Verstand noch weiterarbeitete, so war doch die logische Aufeinanderfolge der Gedanken anscheinend unterbrochen. Mehr als zwei oder drei Gedanken vermochte ich nicht folgerichtig miteinander zu verknüpfen. So ist mir das in Erinnerung. Als dann aber die Anfälle nachließen, wurde ich wieder gesund und kräftig wie jetzt. Ich weiß noch, daß die Traurigkeit, die mich erfüllte, ganz unerträglich war; ich hätte am liebsten losgeweint, ich befand mich dauernd in größter Erregung und Unruhe. Einen furchtbaren Eindruck machte es auf mich, daß dies alles mir fremd war; denn soviel begriff ich. Das Fremde drückte mich nieder. Aber (daran erinnere ich mich aufs deutlichste) ich erwachte eines Abends in Basel bei der Ankunft in der Schweiz völlig aus dieser geistigen Umnachtung, und was mich erweckte, das war das Geschrei eines Esels auf dem Marktplatz. Dieser Esel war für mich eine großartige Überraschung und gefiel mir aus nicht recht verständlichen Gründen außerordentlich, und gleichzeitig wurde in meinem Kopfe sozusagen alles auf einmal wieder hell.«
»Ein Esel? Das ist sonderbar«, bemerkte die Generalin. »Übrigens, eigentlich ist dabei nichts Sonderbares, die eine oder die andere von uns wird sich noch in einen Esel verlieben«, fügte sie hinzu und blickte die lachenden Mädchen zornig an. »Das ist alles schon in der Mythologie vorgekommen. Fahren Sie fort, Fürst!«
»Seitdem liebe ich Esel sehr. Ich habe sogar eine gewisse Sympathie für sie. Ich begann, mich nach ihnen zu erkundigen,
»Nicht wahr, nicht wahr?« sagte die Generalin eifrig. »Ich sehe, daß auch Du manchmal verständig bist. Na, nun hast du aber genug gelacht! Sie blieben ja wohl bei dem landschaftlichen Eindruck der Schweiz stehen. Fürst. Also bitte!«
»Wir kamen in Luzern an und fuhren dann über den See. Ich empfand, wie schön er war, fühlte mich aber dabei entsetzlich bedrückt«, sagte der Fürst.
»Warum?« fragte Alexandra.
»Ich verstehe es nicht. Ich fühle mich beim ersten Anblick solcher Naturschönheiten jedesmal bedrückt und unruhig; es ist eine aus Vergnügen und Unruhe gemischte Empfindung. Übrigens hing das alles noch mit meiner Krankheit zusammen.«
»Ach, ich möchte das zu gern einmal sehen«, sagte Adelaida. »Und ich begreife nicht, warum wir nicht endlich einmal ins Ausland reisen. Ich kann schon seit zwei Jahren keinen Vorwurf für ein Bild finden:
›Ost und Süd sind längst geschildert...‹
Suchen Sie mir doch einen Vorwurf für ein Bild, Fürst!«
»Ich verstehe davon nichts. Aber ich möchte meinen: es ist weiter nichts erforderlich, als zu sehen und dann zu malen.«
»Zu sehen verstehe ich eben nicht.«
»Aber in was für Rätseln sprecht ihr denn da? Ich verstehe euch ja gar nicht!« unterbrach sie die Generalin. »Was heißt das: ›Zu sehen verstehe ich nicht?‹ Du hast doch Augen, nun, dann sieh doch! Wenn du hier nicht zu sehen verstehst, wirst du es auch im Ausland nicht lernen. Erzählen Sie lieber, was Sie selbst
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