Der Idiot
war einer der Patienten meines Professors und machte eine Kur. Er hatte heftige Anfälle, war manchmal sehr unruhig, weinte viel und versuchte sogar einmal, sich das Leben zu nehmen. Sein Leben im Gefängnis war sehr traurig gewesen, kann ich Ihnen versichern, aber keineswegs so ein Kopekenleben. Und dabei bestand seine ganze Bekanntschaft aus einer Spinne und einem Bäumchen, das unter seinem Fenster wuchs... Aber ich will Ihnen lieber von einer Begegnung erzählen, die ich im vorigen Jahre mit einem andern Menschen hatte. Bei diesem lag ein sehr merkwürdiger Umstand vor, merkwürdig besonders deshalb, weil ein solcher Fall nur sehr selten vorkommt. Dieser Mensch wurde einmal mit anderen zusammen auf das Schafott geführt, und man las ihm seine Verurteilung zum Tode durch Erschießen wegen eines politischen Verbrechens vor. Zwanzig Minuten darauf wurde ihm seine Begnadigung verlesen und ein anderer Grad der Bestrafung festgesetzt; aber die zwanzig Minuten oder wenigstens die Viertelstunde zwischen den beiden Urteilen hat er in der zweifellosen Überzeugung verlebt, daß er in wenigen Minuten plötzlich tot sein werde. Ich hörte ihm mit dem größten Interesse zu, wenn er manchmal von seinen damaligen Eindrücken erzählte, und richtete mehrmals meinerseits Fragen an ihn. Er erinnerte sich an alles mit außerordentlicher Klarheit und sagte, er werde diese Minuten nie vergessen. Etwa zwanzig Schritte vom Schafott entfernt, um das eine Menge Volk und Soldaten herumstanden, waren drei Pfähle in die Erde gegraben, da es mehrere Verurteilte waren. Man führte die drei ersten zu den Pfählen hin, legte ihnen das Sterbekostüm an (lange weiße Kittel), zog ihnen weiße Kapuzen über die Augen, damit sie die Gewehre nicht sehen konnten, und band sie fest; dann nahm jedem Pfahl gegenüber eine Abteilung Soldaten Aufstellung. Mein Bekannter stand als achter in der Reihe, mußte also in dem dritten Trupp zu den Pfählen gehen. Ein Geistlicher ging mit einem Kruzifix von einem zum andern. Nun war es soweit, daß er nur noch fünf Minuten zu leben hatte, nicht mehr. Er sagte, diese fünf Minuten seien ihm als ein endloser Zeitraum erschienen, als ein gewaltiger Reichtum; er habe die Vorstellung gehabt, als ob diese fünf Minuten so viel Leben für ihn einschlössen, daß er an die letzten Augenblicke noch gar nicht zu denken brauche; er habe daher noch allerlei Dispositionen darüber getroffen, habe die Zeit berechnet, die zum Abschiednehmen von seinen Kameraden erforderlich sei, und »Sehr bescheiden gesprochen«, bemerkte Aglaja in einem Ton, der beinah gereizt klang.
»Wie tapfer Sie doch alle sind! Sie lachen, und auf mich wirkte seine ganze Erzählung so stark, daß ich nachher davon träumte, und namentlich von diesen fünf Minuten ...«
Er ließ seinen Blick noch einmal prüfend und ernst über seine Zuhörerinnen hinschweifen.
»Sie zürnen mir doch nicht aus irgendeinem Grund?« fragte er plötzlich; er war anscheinend verlegen, blickte aber doch gerade allen in die Augen.
»Aber weswegen denn?« riefen alle drei Mädchen erstaunt.
»Nun, weil ich sozusagen den Schulmeister spiele...«
Alle lachten.
»Wenn Sie mir zürnen, dann seien Sie mir doch bitte wieder gut!« sagte er. »Ich weiß ja selbst, daß ich weniger als andere gelebt habe und weniger als alle anderen vom Leben verstehe. Ich rede vielleicht manchmal sehr wunderlich...«
Hier geriet er tatsächlich ganz in Verwirrung.
»Wenn Sie sagen, daß Sie glücklich waren, so haben Sie nicht weniger gelebt als andere, sondern mehr; warum verstellen Sie sich dann also und entschuldigen sich?« begann Aglaja in scharfem, herausforderndem Ton. »Sie brauchen sich übrigens nicht darüber zu beunruhigen, daß Sie uns belehren; von einem solchen Triumph Ihrerseits kann gar nicht die Rede sein. Bei Ihrem Quietismus kann man auch ein Leben, das hundert Jahre dauert, mit Glück anfüllen. Mag man Ihnen nun eine Hinrichtung oder einfach einen Finger zeigen, Sie werden aus dem einen und aus dem andern in gleicher Weise einen löblichen Gedanken schöpfen und dabei zufrieden und glücklich sein. Auf die Art läßt sich das Leben ertragen.«
»Ich verstehe nicht, warum du dich immer so ereiferst«, sagte die Generalin, die schon lange die Gesichter der Redenden beobachtet hatte, »und wovon ihr eigentlich redet, daraus kann ich auch nicht klug werden. Von was für einem Finger ist denn die Rede? Was ist das für ein Unsinn? Der Fürst spricht sehr schön, nur ein
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