Der Idiot
bißchen zu traurig. Warum »Wem haben Sie denn davon erzählt?«
»Ihrem Kammerdiener, während ich wartete...«
»Welchem Kammerdiener?« erscholl es von allen Seiten.
»Nun dem, der im Vorzimmer sitzt, mit dem grauen Haar und dem rötlichen Gesicht; ich habe im Vorzimmer gesessen, bis ich zu Iwan Fjodorowitsch hineingehen durfte.«
»Das ist sonderbar«, bemerkte die Generalin.
»Der Fürst ist ein Demokrat«, erklärte Aglaja kurz. »Nun, wenn Sie es Alexej erzählt haben, können Sie es uns auch nicht abschlagen.«
»Ich will es unter allen Umständen hören«, wiederholte Adelaida.
»Als Sie mich vorhin nach einem Vorwurf für ein Gemälde fragten«, wandte sich der Fürst zu ihr (er hatte sehr schnell und vertrauensvoll wieder Mut gefaßt), »da kam mir wirklich der Gedanke, Ihnen einen solchen an die Hand zu geben: das Gesicht eines Verurteilten zu zeichnen, eine Minute vor dem Niederfallen des Beils der Guillotine, wenn er noch auf dem Schafott steht, also bevor er sich auf das Brett legt.«
»Das Gesicht? Nur das Gesicht? fragte Adelaida. »Das wird ein sonderbarer Vorwurf sein, was soll denn dabei für ein Bild herauskommen?«
»Ich wüßte nicht, warum man das nicht zeichnen sollte«, versetzte der Fürst beharrlich und eifrig. »Ich habe unlängst in Basel ein solches Bild gesehen. Ich würde es Ihnen sehr gern beschreiben... Ich werde es auch ein andermal tun... Es hat auf mich einen starken Eindruck gemacht.«
»Das Baseler Bild müssen Sie mir jedenfalls später einmal beschreiben«, sagte Adelaida. »Jetzt aber erklären Sie mir bitte das Bild von der Hinrichtung! Können Sie es so schildern, wie Sie es sich vorstellen? Wie soll man dieses Gesicht zeichnen? Das Gesicht allein? Wie sieht denn dieses Gesicht aus?«
»Es war genau eine Minute vor dem Tode«, begann der Fürst sehr bereitwillig – er schien von seinen Erinnerungen ganz hingerissen zu sein und sogleich alles übrige zu vergessen, »in dem Augenblick, wo er die Stufen hinaufgestiegen war und das Schafott betreten hatte. Da blickte er nach der Seite hin, wo ich stand; ich sah ihm ins Gesicht und verstand alles... Freilich, wie kann ich das mit Worten wiedergeben? Ich würde innig wünschen, daß Sie oder sonst jemand das zeichnete! Das beste wäre, wenn Sie es täten! Ich dachte gleich damals: ein solches Bild wird nützlich sein. Wissen Sie, man müßte darin alles zur Darstellung bringen, was vorhergegangen war, alles, alles. Er hatte, wie ich hörte, im Gefängnis gesessen und seine Hinrichtung in frühestens einer Woche erwartet; er rechnete auf die gewöhnlichen Formalitäten, darauf, daß das Todesurteil noch irgendwohin geschickt werden müßte und erst nach Ablauf einer Woche wieder zurückkommen würde. Aber diesmal nahm durch irgendeinen Zufall die Sache einen kürzeren Gang. Um fünf Uhr morgens schlief er noch. Es war Ende Oktober; um fünf Uhr ist es da noch kalt und dunkel. Der Gefängnisaufseher trat, von einer Wache begleitet, leise herein und berührte sacht seine Schulter; er richtete sich halb auf, stützte sich auf den Ellbogen und sah das Licht: ›Was gibt's?‹ – ›Um zehn Uhr ist die Hinrichtung.‹ Verschlafen, wie er war, wollte er es nicht glauben und Einwendungen machen: das Urteil werde doch erst in einer Woche zurückkommen. Aber sobald er völlig wach geworden war, hörte er auf zu streiten und schwieg. So erzählte man. Dann sagte er: ›Es ist doch schrecklich, so plötzlich...‹ und verstummte wieder und vermochte nun kein Wort mehr zu sagen. Nun vergehen drei, vier Stunden, die durch die bekannten Dinge ausgefüllt werden: den Besuch des Geistlichen, das Frühstück, bei dem ihm Wein, Kaffee und gebratenes Rindfleisch gereicht werden (aber ist das nicht der reine Hohn? Bei einiger Überlegung sagt man sich: welche Grausamkeit; aber andererseits handeln diese harmlosen Leute in bester Meinung und sind überzeugt, daß das Humanität ist); dann folgt die Toilette (Sie wissen wohl, worin die Toilette eines Hinzurichtenden besteht); schließlich fährt man ihn durch die Stadt zum Schafott... Ich denke mir, daß er, auch während er so fuhr, die Vorstellung gehabt hat, es bleibe ihm noch eine endlose Zeit zum Leben übrig. Ich glaube, er hat unterwegs gewiß gedacht: ›Es dauert noch lange, noch drei Straßen lang habe ich zu leben; jetzt fahre ich durch diese, dann kommt noch jene, dann noch jene, wo rechts der Bäckerladen ist... es ist noch eine ganze Weile, bis wir zu dem Bäckerladen
Weitere Kostenlose Bücher