1606 - Die Zeit-Bande
Dann hatte er an den Würfel des Heils gedacht. Er befand sich in seiner Nähe. Er war so etwas wie ein Indikator, der ihm sowohl positive als auch negative Botschaften anzeigte.
Leider hatte ihm auch der Würfel keinen Hinweis gegeben. Aber das Gefühl, das ihn gewarnt hatte, war noch in ihm gewachsen. In seinem Innern rumorte es wie ein unruhig laufender Motor.
Er wollte nicht mehr länger an seinem Schreibtisch sitzen bleiben und stand auf.
Godwin de Salier war ein stattlicher Mann. Sein Körper wirkte durchtrainiert. Er trug nicht die Kutte der Templer, sondern ganz normale Kleidung. Das hatte er sich so angewöhnt, und das wollte er auch so beibehalten. Der locker fallende braune Pullover reichte ihm bis über den Gürtel, der die schwarze Jeans hielt.
Als er mit kleinen Schritten auf das Fenster zuging und dabei dem Knochensessel einen knappen Blick zuwarf, dachte er daran, dass auch im Süden Frankreichs der Winter ziemlich hart zugeschlagen hatte. Das Kloster der Templer lag in einer etwas erhöhten Gegend. Die Nordseite der Pyrenäen war nicht weit entfernt, und die Kälte hatte viel Schnee gebracht, der noch nicht weggetaut war und das Land mit seiner hellen Schicht bedeckte. Dann war der Frost hinzugekommen und hatte für eisglatte Straßen gesorgt.
Der Templer hielt vor dem Fenster an und furchte die Stirn.
Es war auch jetzt nichts Ungewöhnliches zu sehen. Sein Blick streifte nicht hinab in den Klostergarten, sondern glitt über das Land hinweg, das die kleine Stadt Alet-les-Bains umgab. Eine Landschaft aus Hügeln und Tälern, die Godwin jetzt vorkam wie ein riesiges Wintergemälde Es war wieder eine dieser klaren Nächte, die eine besondere Dunkelheit brachten, was auch an der dicken Schneeschicht liegen konnte. Die Nacht war tintenblau, nicht grau oder schwarz. Diese tiefblaue Farbe schien sich auf der Schneefläche fest gesetzt zu haben, und sie ließ einen weiten Blick zu.
Da malten sich nicht nur die Hügel ab, sondern auch die schroffen Felsen, die weiter südlich wie eine Wand in die Höhe ragten. Dort lag, versteckt in einem Einschnitt, die Kathedrale der Angst, die in der Vergangenheit eine wichtige Rolle gespielt hatte. Und auch jetzt war sie noch ein geheimnisvolles Zentrum.
Godwin ließ das Fenster geschlossen. Die Scheibe war so klar, dass sie ihn nicht in seiner Sicht behinderte. Er hätte sich von der Schönheit der Winternacht faszinieren lassen können, was er allerdings nicht tat, denn er war zu sehr aufgewühlt. Es kam etwas! Es war etwas unterwegs!
Nicht grundlos hatte er die Warnung oder die innere Unruhe gespürt. Es war nach außen hin eine völlig normale Nacht, aber sie hielt etwas verborgen, und es konnte durchaus sein, dass nur er etwas davon spürte.
Godwin spielte mit dem Gedanken, zu seinen Mitbrüdern in die höhere Etage zu gehen. Dort hielten sie Tag und Nacht Wache, und sie waren mit den modernsten elektronischen Geräten ausgestattet. Es konnte sein, dass sie etwas bemerkt hatten. Zum Beispiel das Abfangen irgendwelcher Signale oder eine starke Veränderung innerhalb des Weltgeschehens.
Er ließ es bleiben. Hätten seine Wächter etwas festgestellt, was aus dem Rahmen fiel, dann hätten sie es ihm mitgeteilt.
Er drehte den Kopf zur Seite und ließ seinen Blick über den Knochensessel streifen.
Es war das Skelett des letzten Templerführers, der im Jahr 1314 auf der Ile de la Cité in Paris hingerichtet worden war. Sein Skelett war gerettet worden und durch Freunde - die Conollys aus London - zu ihm gelangt.
Der Knochensessel war nicht für jeden bestimmt. Und er war so etwas wie eine ungewöhnliche Zeitmaschine, das hatte Godwin am eigenen Leib erleben können, ebenso wie sein Freund John Sinclair.
War etwas mit dem Sessel? Der Templer schüttelte den Kopf. Er wischte über seine Augen, weil er für einen kurzen Moment den Eindruck gehabt hatte, dass sich die Knochen leicht verändert hatten.
Sie hatten sich nicht bewegt wie bei einem Menschen. Da war etwas anderes geschehen. So etwas wie ein schwaches Leuchten hatte das Skelett für einen Moment erfasst. Von den knochigen Füßen bis zum Totenschädel war es für eine kurze Zeit aufgeflackert und dann wieder verschwunden.
Stimmte es? Oder war es nur eine Täuschung gewesen?
Der Templer konnte sich darauf keine Antwort geben.
Er wandte den Blick vom Knochensessel ab und drehte sich wieder dem Fenster zu. Die Scheibe war noch immer klar. Nichts trübte seinen Blick in die schweigende Winterlandschaft,
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