Der Idiot
schimpften auf sie und verdammten sie und sahen sie mit größter Verachtung an wie eine ekle Spinne. Die Mutter ließ das alles geschehen, saß selbst dabei, nickte mit dem Kopf und billigte diese Roheiten. Die Mutter war damals schon sehr krank und dem Tode nahe, zwei Monate darauf starb sie auch wirklich; sie wußte, daß sie bald sterben werde, wollte sich aber trotzdem bis zu ihrem Tode nicht mit ihrer Tochter versöhnen, sie redete sogar kein Wort mit ihr, jagte sie zum Schlafen auf den Flur hinaus und gab ihr fast nichts zu essen. Sie mußte ihre kranken Füße oft in warmes Wasser stellen; Marie wusch sie ihr alle Tage und pflegte die Mutter, aber diese nahm alle Dienstleistungen der Tochter schweigend hin, ohne ihr auch nur ein einziges freundliches Wort zu gönnen. Marie ertrug alles, und als ich dann später mit ihr bekannt wurde, nahm ich wahr, daß sie diese Behandlung sogar selbst für gerecht erachtete und sich selbst für das allerschlechteste Geschöpf hielt. Als die Mutter dauernd an das Bett gefesselt war, kamen die alten Frauen des Dorfes der Reihe nach zu ihr, um sie zu pflegen, das ist dort so Sitte. Nun bekam Marie überhaupt nichts mehr zu essen, im Dorfe aber jagten alle Leute sie fort, und nicht einmal Arbeit wollte ihr jemand geben wie früher. Alle behandelten sie wie eine Verworfene, und die Männer betrachteten sie gar nicht mehr als Frau, solche unflätigen Schimpfworte gebrauchten sie ihr gegenüber. Manchmal, indes nur sehr selten, warfen sie ihr, wenn sie sich sonntags betrunken hatten, spaßeshalber ein paar Groschen hin, einfach auf die Erde, und Marie hob sie schweigend auf. Sie fing schon damals an, Blut zu husten. Schließlich waren ihre Lumpen schon vollständig zu Fetzen geworden, so daß sie sich schämte, sich im Dorfe blicken zu lassen; barfuß ging sie schon seit ihrer Heimkehr. Da begann die ganze Kinderschar – es waren über vierzig Schulkinder – sie zu verhöhnen und sogar mit Schmutz nach ihr zu werfen. Sie bat den Hirten, er möge ihr erlauben, die Kühe zu hüten, aber der Hirt jagte sie weg. Da fing sie an, ohne seine Erlaubnis mit der Herde für den ganzen Tag hinauszuziehen. Da sie dem Hirten sehr viel Nutzen brachte und er dies bemerkte, trieb er sie nun nicht mehr fort und gab ihr manchmal die Überreste seines Mittagessens, Brot und Käse. Er hielt das für eine große Gnade seinerseits. Als die Mutter gestorben war, schämte sich der Pastor nicht, Marie in der Kirche vor allem Volk an den Pranger zu stellen. Marie stand, so wie sie war, in ihren Lumpen, am Sarge. Es hatte sich eine Menge Leute eingefunden, um zu sehen, wie sie weinen und hinter dem Sarge hergehen würde; da wandte sich der Pastor – er war noch ein junger Mann, und sein ganzer Ehrgeiz war, ein großer Prediger zu werden – an alle Anwesenden und zeigte auf Marie. ›Die ist es, die an dem Tode dieser achtenswerten Frau die Schuld trägt‹ (das war unwahr, da die Mutter schon seit zwei Jahren krank gewesen war), ›da steht sie vor euch und wagt nicht aufzublicken, weil Gottes Finger sie gezeichnet hat; da ist sie nun, barfuß und in Lumpen, ein abschreckendes Beispiel für diejenigen, die vom Pfade der Tugend abirren möchten! Und wer ist es? Es ist die eigene Tochter!‹ und in dieser Art immer weiter. Und denken Sie sich: diese Gemeinheit gefiel fast allen, aber... nun ereignete sich etwas Besonderes: die Kinder traten für Marie ein, denn zu dieser Zeit waren die Kinder alle schon auf meiner Seite und hatten Marie liebgewonnen. Das war so zugegangen. Ich wollte gern etwas für Marie tun; es war dringend nötig, daß ihr jemand Geld gab, aber Geld hatte ich dort nie auch nur eine Kopeke in meinem Besitz. Ich hatte eine kleine Brillantnadel, die verkaufte ich an einen Trödler, der in den Dörfern herumzog und mit alten Kleidern handelte. Er gab mir dafür acht Frank, obwohl sie gut vierzig wert war. Lange Zeit bemühte ich mich, Marie allein zu treffen; endlich begegneten wir einander außerhalb des Dorfes, an einem Zaun, auf einem Seitenpfad, der in die Berge führte, bei einem Baum. Dort gab ich ihr die acht Frank und sagte ihr, sie möchte damit sparsam umgehen, da ich nicht mehr hätte, und dann küßte ich sie und sagte, sie solle nicht denken, daß ich irgendeine unlautere Absicht hätte; ich hätte sie nicht etwa geküßt, weil ich in sie verliebt wäre, sondern weil sie mir sehr leid täte und ich sie gleich von Anfang an durchaus nicht für schuldbeladen, sondern nur für
Weitere Kostenlose Bücher