Der indigoblaue Schleier
war er zu feige.
Amba wäre, als sie und Nayana wieder allein waren, am liebsten erneut in Tränen ausgebrochen. Es war zu viel auf einmal: die Schwäger, die ihr nach der langen Zeit noch immer nachsetzten, die Gefahren, die von der Inquisition drohten, der Erpresser Manohar und schließlich eine Liebe, die keinerlei Aussicht auf Erfüllung hatte – welche Frau wäre angesichts dieser Last nicht einem Zusammenbruch nahe gewesen? Amba hatte das ungute Gefühl, dass ihre Kraft nicht länger ausreichen würde, um dieser Übermacht an Bedrohungen standzuhalten. Wäre sie allein auf der Welt gewesen, hätte sie abermals die Flucht ergriffen. Aber sie trug Verantwortung für so viele Menschen.
»Deine Schultern sind stark, Amba-Liebling«, sagte Nayana, als ob sie ihre Gedanken hätte lesen können, »aber nicht so stark, als dass sie die schweren Bündel von uns allen tragen könnten. Geh fort. Lass uns hier zurück, wir sind dir doch nur eine Last.«
»Das geht nicht. Makarand, Anuprabha und Jyoti sind jung und stark, um sie mache ich mir wenig Sorgen. Aber was ist mit dir und Dakshesh, mit Chitrani sowie Shalini und ihrem Jungen? Ihr könnt doch …«
Nayana unterbrach sie mit einer Geste. »Wir können gut allein auf uns aufpassen. Und wenn du uns das Nötigste zum Leben dalassen würdest, kämen wir gut zurecht. Du hast schon so viel für uns alle getan.«
»Ich weiß nicht, Nayana. Ich muss nachdenken. Gib mir etwas Zeit.«
»Du hast keine Zeit mehr. Hol dir deinen Diamanten zurück und geh fort, bevor sie dich holen kommen.«
Die Dringlichkeit in der Stimme ihrer alten Kinderfrau gab Amba zu denken. Hatte sie selber die Gefahren zu lange verdrängt? Hatte sie sich zu sehr auf ihr Glück oder ihre Schlauheit verlassen und darüber verleugnet, wie eng die Schlinge sich bereits um ihren Hals gelegt hatte? Hatte sie es sich in ihrer neuen Existenz zu bequem gemacht? So lange war alles gut gegangen, die Jahre in Goa gehörten zu den friedlichsten ihres Lebens. Würde sie nicht doch noch eine Lösung finden können, wie all das zu bewahren wäre? Wenn sie den Erpresser Manohar loswerden könnte, wenn die Schwäger sie nicht fänden und wenn dann noch der Inquisitor von der Cholera dahingerafft werden würde, dann könnte alles so weitergehen wie bisher. Wenn, wenn, wenn – sie würde an so vielen Fronten gleichzeitig kämpfen müssen, dass die Schlacht von vornherein verloren wäre. Und welchen Sinn hatte es jetzt noch, in Goa zu bleiben, wo sie fortwährend an Miguel erinnert werden würde? Nayanas Rat war klug und richtig: Sie sollte sich den Diamanten holen, ihren Leuten genügend Geld geben, damit sie sich allein durchschlagen konnten, und dann fortgehen.
Aber wohin? Jeder Ort der Welt erschien ihr grau und traurig, wenn dort nicht die Liebe wohnte.
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45
N achdem Isabel de Matos und die Eheleute Queiroz abgereist waren, empfand Miguel das Haus als zu groß und zu leer. Es war schön gewesen, Gesellschaft – und vor allem Ablenkung – zu haben. Nun hatten seine Gedanken wieder zu viel Raum, um sich mit Amba zu beschäftigen. Er würde ihr einen neuerlichen Besuch abstatten, so viel stand fest. Als er den Abend mit Amba noch einmal Revue passieren ließ, wurde ihm klar, wie die plötzliche Nachricht von der Ankunft einer Verlobten auf sie gewirkt haben musste. Sie würde ihn verfluchen, sie würde sich von ihm abwenden und sich nicht zwischen ihn und die Verlobte drängen wollen. Sie konnte ja nicht ahnen, dass er nicht die Absicht hatte, sich mit Isabel zu vermählen, oder auch nur, ihr schöne Augen zu machen. Er wollte keine andere als Amba, das musste er ihr dringend sagen. Und die Ernsthaftigkeit seiner Absichten würde er ihr am ehesten verdeutlichen können, wenn er direkt um ihre Hand anhielt. Das war vielleicht nicht gerade orthodox bei einer verheirateten Frau, die erst frei wäre, wenn ihre Ehe, etwa wegen Kinderlosigkeit, annulliert würde, aber es würde ganz bestimmt seinem Ziel dienen. Gleich morgen würde er bei Senhor Rui einen kostbaren Ring erwerben. Der Juwelier, den er zuletzt bei seinem Besuch in der Hauptstadt gesehen und für moribund gehalten hatte, erfreute sich bester Gesundheit und betrieb sein Geschäft nun dort, wo auch seine Klientel sich aufhielt: in der neuen Siedlung Pangim rund um die Kirche Nossa Senhora da Imaculada Conceição.
Um Geld brauchte er sich, wenn die Nachrichten aus Europa stimmten, nicht viele Gedanken zu machen. Er hatte von allen drei
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