Der indigoblaue Schleier
Mendonça-Geschwistern je einen Brief erhalten, jeder einzelne davon überaus optimistisch. Die Überfahrt sei zwar schrecklich gewesen, schrieben alle drei übereinstimmend, und die Ankunft in Lissabon ebenfalls. Es sei eine wunderbare Stadt, viel größer und schöner als Goa, aber die Leute seien furchtbar arrogant und behandelten sie, die »Ausländer« aus Portugiesisch-Indien, als seien sie Wilde.
»Stell Dir vor«, hatte Delfina geschrieben, »gestern hat mich ein dummer Lümmel mit reichem Vater doch tatsächlich gefragt, ob ich schon einmal Portwein gekostet hätte.« Ihre Mission jedoch sei sehr erfolgreich gewesen, berichtete sie. Sidónio habe ihr den Teil der Ware, der speziell für eine weibliche Kundschaft gedacht war, überlassen, und sie habe alles innerhalb weniger Tage verkaufen können. »Du hast einen Nerv getroffen«, schrieb sie, »die Damen sind ganz verrückt auf die Saris, die sie zu Kissenbezügen oder Gardinen umarbeiten lassen. Ich habe es zunächst mit einem Preis versucht, der sehr weit über dem lag, was du dir vorgestellt hattest, und siehe da: Sie fanden es noch billig! Du wolltest pro Sari 500 Reis erzielen, ich habe 1200 bekommen. Die Kämme, für die du pro Paar 300 Reis wolltest, konnte ich alle für knapp 1 Milreis losschlagen, und die mit den Rubinen bin ich gar für anderthalb Milreis losgeworden. Beglückwünsche mich – und ziehe schon einmal meine Provision ab!«
Sidónios Bericht ähnelte dem seiner Schwester. »Die Elfenbeinminiaturen fanden reißenden Absatz, insbesondere die mit den etwas pikanten Darstellungen. Statt der 2 Milreis habe ich jeweils fast 5 Milreis dafür erzielt! Wenn Du einen Handel allein mit diesen Bildchen aufziehst, die noch dazu den Vorteil haben, leicht zu transportieren und unverderblich zu sein, kannst Du ein Vermögen verdienen – und ich ebenfalls. Es hat großen Spaß gemacht, wenngleich mir die eine oder andere Peinlichkeit nicht erspart blieb, denn jeder Kunde vermutet gleich, man habe selber in Indien Erfahrungen gesammelt, wie sie abgebildet sind, und, nun ja … Jedenfalls habe ich hier mindestens zwanzig Männer, die solche Bilder bei mir bestellt haben. Delfina hat sogar ein paar Damen, die sich dafür interessieren, aber das … Ich denke, es wäre sehr unschicklich. Also: Plane schon einmal die nächste Reise, und besorge lieber mehr als weniger von diesen unkeuschen Bildnissen.«
Miguel fand es amüsant, dass Sidónios unvollendete Sätze nicht nur für dessen mündliche Rede charakteristisch waren. Der Ärmste war sogar zu schüchtern zu schreiben, was seine Kunden ihm unterstellten. Miguel, der die Bilder noch genau vor Augen hatte, wusste, was das im Einzelnen war. Die kleinen Elfenbeintafeln hatten Szenen aus dem Kamasutra dargestellt, höchst kunstvoll gemalt und mit einer halb so schmutzigen Bedeutung behaftet, wie es für die Europäer den Anschein haben musste. Und er hatte schon nur die harmlosesten gekauft. Da sah man kopulierende Paare mit grotesk vergrößerten Genitalien, die sich in allen nur denkbaren Positionen miteinander vergnügten. Es hatte auch Bilder gegeben, auf denen gleichgeschlechtliche Paarungen zu sehen waren, solche mit Tieren oder auch solche, an denen drei oder mehr Personen beteiligt waren.
In Indien, wusste Miguel, war der Penis ein Symbol der Fruchtbarkeit und damit des Reichtums; man sah ihn vor jedem Tempel, als
lingam,
als Phallus des Shiva. In Europa dagegen war alles Körperliche, insbesondere alles Geschlechtliche, verpönt. Man sprach nicht darüber, und noch viel weniger zeigte oder malte man es, jedenfalls nicht im Zusammenhang mit der fleischlichen Vereinigung zweier Menschen. Miguel hoffte, dass Sidónio vorsichtig war und sich mit den erotischen Bildern keinen Ärger seitens der Kirche einhandelte.
Álvaros Bericht las Miguel mit beinahe noch größerer Spannung als die Briefe von dessen Geschwistern. Álvaros Auftrag war es gewesen, an Bord eines Handelsschiffes Augen und Ohren aufzusperren und so möglicherweise einen Hinweis darauf zu erhalten, wer für den Verlust der Ware verantwortlich war, wie Ribeiro Cruz & Filho ihn zu beklagen hatte. Miguel hatte eigentlich mit keinem nennenswerten Resultat gerechnet, in erster Linie hatte er dem Freund einen Gefallen dadurch erweisen wollen, dass er ihm eine sinnvolle Beschäftigung sowie die Gelegenheit gab, ohne die anderen zu reisen. Doch was Álvaro herausgefunden hatte, war hochinteressant.
Als wir vor Angola vor Anker lagen,
Weitere Kostenlose Bücher