Der indigoblaue Schleier
damit er wieder zur Besinnung käme. In diesem Augenblick kamst du. Deine Phantasie ist schmutzig, Makarand. Glaubst du im Ernst, sie würden mitten im Garten, noch dazu auf der nassen Erde, Unzucht treiben? Ich bitte dich!«
Aber Makarand wusste, was er gesehen hatte. Es hatte ihn sehr beunruhigt. Er hatte Ambadevi nie als eine Frau aus Fleisch und Blut betrachtet, und die Tatsache, dass sie ja nun offensichtlich über einen Körper mit eigenen Bedürfnissen verfügte, fand er mindestens unangemessen, wenn nicht gar ekelhaft. Bei alten Leuten, also allen über 25 , war die fleischliche Lust irgendwie widernatürlich. Zugleich hatte er die Szene sehr erregend gefunden. Nicht dass er unkeusche Körperteile gesehen hätte, das nicht. Aber die Hand von Miguel-sahib unter dem Sari von Ambadevi … da ging wirklich die Phantasie mit ihm durch.
Nayana war die Einzige, die die indiskreten Schilderungen Makarands für glaubhaft hielt. »Amba-Schatz«, redete sie ihrem einstigen Schützling ins Gewissen, »das geht einfach nicht. Du kannst nicht mit diesem Ausländer anbändeln, und noch dazu vor den Augen der Diener. Wo soll es hinführen mit der Ordnung der Dinge, wenn jeder seinen Gelüsten nachgibt?«
»Halt dich da heraus!«, fuhr Amba ihre alte Kinderfrau an. »Was weißt du schon davon?« Dann warf sie sich in Nayanas Arme und brach in Tränen aus. »Was habe ich da getan?«, schluchzte sie, »was habe ich bloß getan? Wie konnte ich nur?« Dabei wusste Amba sehr wohl, wie es zu alldem hatte kommen können. Sie bedauerte es auch nicht. Es war wunderbar gewesen, die Liebkosungen eines Mannes wie Miguel zu erfahren, und grandios, sich so begehrt zu fühlen wie schon lange nicht mehr. Er hatte Empfindungen in ihr geweckt, die sie längst verloren geglaubt hatte, er hatte sie sich lebendig bis in die Zehenspitzen fühlen lassen. Das allein war es wert gewesen. Dass sie erwischt worden waren, störte Amba ebenfalls nicht. In ihrem eigenen Haus konnte sie schließlich tun und lassen, was sie wollte, und einem Burschen wie Makarand war sie gewiss keine Rechenschaft schuldig. Was sie dagegen zutiefst erschüttert hatte, war die Tatsache, wie eilig Miguel es plötzlich gehabt hatte, fortzukommen. Die Verlobte. Diese verfluchte Verlobte.
Ohne sie je gesehen zu haben und ohne zu wissen, ob die unbekannte Frau schön oder hässlich, klug oder dumm, gut oder böse war, verabscheute Amba sie aus tiefstem Herzen. Sie wusste, dass sie der Portugiesin niemals das Wasser reichen könnte. Die andere war weiß und katholisch. Und als wäre das noch nicht genug, war sie bestimmt auch von hoher Herkunft und von einem bezaubernden Naturell. Miguel und seine Verlobte teilten so vieles, was sie, Amba, niemals mit ihm teilen würde. Sie hatte nächtelang wach gelegen und sich vorgestellt, wie die verhasste Verlobte und Miguel zur gleichen Zeit zusammensäßen, Geschichten aus ihrer Kindheit zum Besten gäben und über gemeinsame Bekannte plauderten. Die beiden würden einander ähnliche Anekdoten schildern können: wie sie als Kinder im Beichtstuhl gekichert hatten; welche Geschäfte oder Lokale in Lissabon sie aufsuchten; welche Modesünden ihre Mütter begingen; wie unerträglich der August in der Stadt war und wie angenehm das Klima in den Hügeln um Sintra. Sie würden auf einen Blick Dinge erkennen können, für die es in einer anderen Kultur langer Erklärungen bedurfte: wie eine bestimmte Frisur, eine Art, sich zu kleiden, oder eine Farbe zu deuten waren. In Europa trugen Bräute Weiß, in Indien taten es Witwen. Von diesen alltäglichen Kleinigkeiten, die die Menschen miteinander verbanden, gab es allzu viele, und Amba beneidete die Verlobte um jenen Vorsprung an Wissen, der sie Miguel näherbrachte, ohne dass diese sich dessen bewusst wäre.
Zugleich verachtete sie sich selbst für ihre Schwäche. Neid oder Eifersucht waren nicht angebracht. Ehen wurden von den Eltern arrangiert, hier wie dort. Natürlich war Miguel von dieser Tradition nicht ausgenommen. Amba hatte gewusst, worauf sie sich einließ. Miguel hatte ja sogar die Verlobte zuvor schon erwähnt, doch sie selber war vor Eitelkeit so verblendet gewesen zu glauben, Miguel habe die Frau nur erfunden. Wie dumm sie gewesen war!
Sie musste sich Miguel aus dem Kopf schlagen. Nayana hatte von Anfang an recht gehabt.
»Was würde ich nur ohne dich tun?«, sagte sie müde lächelnd zu ihrer
ayah
und wischte sich die letzten Spuren der Tränen von den Wangen.
»Und ich ohne
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