Der indigoblaue Schleier
nicht. »In den Lissabonner Lagerhäusern sind jedoch nur rund 8000 Sack«, hier hielt er kurz inne, um sich dann zu korrigieren, »also genauer 7989 Sack Pfeffer und 6670 Sack Nelken eingetroffen. Bei den anderen Gewürzen gab es ebenfalls einen Schwund von circa 20 bis 25 Prozent. Nun, da der übliche Schwund bei rund fünf Prozent liegt – Schiffe, die sinken, Laderäume, die überflutet werden, Säcke, die platzen –, liegt es doch wohl auf der Hand, dass nach Eintreffen der Ware in Portugal jemand die Gewürze stiehlt. Mir ist absolut unbegreiflich, wieso Ihr hier in Goa nach dem Schuldigen sucht.«
»Weil«, setzte Miguel an, überlegte es sich dann aber anders. »Ach, das spielt jetzt keine Rolle. Bleiben wir noch eine Weile bei Eurer Theorie. Habt Ihr einen Verdacht, wer sich der Ware in Lissabon unbefugt bemächtigen könnte? Die Ladung ist sehr kostbar, und die Schiffe sind üblicherweise schwer bewacht.«
Furtado blickte unglücklich drein und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Also, jeder, der auf irgendeine Weise in die Löschung involviert ist, würde sicher einen Weg finden, Ware zu entwenden. Da wäre zunächst die Mannschaft, außerdem kämen die Arbeiter der Speicherhäuser in Frage und natürlich die Wachleute selber. Dann …«
»Würde man aber diese Leute nicht sofort entlarven, weil sie durch plötzlichen Reichtum auffielen? Ein Sack Pfeffer hat einen Marktwert von 500 Milreis – davon könnte ein Lagerarbeiter jahrelang leben.«
»Ja, wahrscheinlich«, sagte Furtado kläglich.
»Ihr glaubt es selber nicht«, stellte Miguel fest.
Furtado schüttelte den Kopf, was Miguel einigermaßen erstaunte. Alle Inder, denen er bisher begegnet war, hatten die typischen Gesten des Nickens oder Kopfschüttelns nicht beherrscht, sondern sich mit diesem sonderbaren Rollen des Kopfes bedeckt gehalten, das er anfangs für einen Ausdruck von Schwachsinn gehalten hatte.
»Ihr glaubt«, fuhr Miguel unnötig grausam fort, »dass es jemand aus dem engsten Umfeld der Familie sein muss, nicht wahr? Weil nur jemand mit Zugang zu den Büchern diese so manipulieren kann, dass der Betrug lange unentdeckt bleiben konnte. Und weil nur jemand, der ohnehin schon wohlhabend ist, nicht auffällt, wenn er mit kostbaren Spezereien handelt. Ist es nicht so?«
Furtado blickte Miguel fest in die Augen, entschlossen darauf bedacht, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. »Ja, Senhor, das glaube ich.«
»Und wärt Ihr so gütig, mir den Namen der Person zu nennen, die Ihr dieser Schandtaten für schuldig haltet?«
Furtado ließ den Kopf hängen und starrte einen Kratzer in der Tischplatte an. Er schwieg. Doch Miguel hatte alles erfahren, was er wissen wollte.
Senhor Furtado hielt ihn, Miguel, für den Übeltäter.
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6
D ie Unterredung mit Senhor Furtado hatte Miguel zutiefst erschüttert. Jetzt brauchte er ein Glas Wein, oder besser noch: mehrere Gläser. Oder etwas Hochprozentigeres. Seit dem schlimmen Kater, den er am Tag seiner Ankunft in Indien gehabt hatte, war Miguel sehr zurückhaltend in seinem Alkoholkonsum geblieben. Aber der heutige Tag hatte ihn durstig gemacht.
Er ließ sein Pferd in dem Unterstand und lief vom Kontorhaus zu der Wohnung von Carlos Alberto. Er war noch nie dort gewesen, denn sein Freund hatte ihm das Haus nur von außen gezeigt, ihn aber nicht hineingebeten, weil sie beide in Eile gewesen waren. Er rannte auf das hübsche weiße Gebäude mit seinen blauen Fensterläden und Türen zu und wäre beinahe auf den nassen Pflastersteinen ausgerutscht. Er konnte sich im letzten Moment fangen – nicht, dass es eine Rolle gespielt hätte. Er war schon jetzt bis auf die Knochen nass, nach einem Sturz hätte er kaum schlechter ausgesehen. An der Tür schwang er den eisernen Klopfer. Ein Diener schaute fragend aus dem Fenster.
»Ich bin Miguel Ribeiro Cruz und möchte zu Carlos Alberto Sant’Ana.«
Der Kopf des Dieners verschwand aus dem Fenster. Eine halbe Ewigkeit später hörte Miguel, dass von innen ein Riegel angehoben wurde. Dann öffnete sich die Tür. Carlos Alberto selber stand dort. Er sah aus, als sei er gerade geweckt worden.
»Miguel, mein Freund, was für eine Überraschung! Komm herein.« Er legte den Riegel wieder vor die Tür und ging dann vor Miguel die Treppe hinauf, immer nervös vor sich hin plappernd. »So eine Überraschung, ehrlich. Was machst du bei diesem schlimmen Regen in der Stadt? Warum hast du deinen Besuch nicht angekündigt? Dann hätte ich für
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