Der indigoblaue Schleier
ein wenig Ordnung sorgen können. Erschrick bloß nicht, es sieht schlimm aus bei mir, denn der Putzjunge hat das Fieber, und der Wäscheeinsammler hat sich, wahrscheinlich wegen des Wetters, auch schon länger nicht mehr blicken lassen.«
Sie erreichten das zweite und letzte Stockwerk und blieben vor einer Tür stehen, die nur angelehnt war. Als Carlos Alberto sie aufzog, drang muffiger Geruch aus der Wohnung. Miguel trat ein und versuchte, seinen Schrecken zu verbergen. Hier hauste sein Freund? In einem Zimmer, das kleiner war als sein einstiges Studierzimmer in Coimbra, das seit Tagen nicht gelüftet worden war und in dem sich Wäscheberge, leere Flaschen und Essensreste in verkrusteten Schalen auf dem Fußboden ein Stelldichein gaben? Das war … entwürdigend. Für einen jungen Mann von guter Herkunft, selbst wenn er aus weniger vermögenden Kreisen stammte, war eine solche Behausung unzumutbar.
»Nun schau nicht so verdutzt. Ich habe mich ein bisschen gehen lassen, in Ordnung? Und es kann ja nicht jeder in einem so grandiosen Solar leben wie du.«
»Hier stinkt es. Zieh dir was an, und dann lass uns gehen. Eine anständige Schänke wirst du doch kennen, oder?«
Als Carlos Alberto nicht gleich antwortete, fügte Miguel wohlweislich hinzu: »Ich lade dich ein. Du bist ja offensichtlich vollkommen pleite.«
»Danke.« Carlos Alberto gab eine großzügig bemessene Portion von Rosenwasser in seine Hand und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Dann legte er eine elegante Capa um seine zerknautschte Kleidung, in der er geschlafen hatte, und stieg in seine Stiefel. »Ich bin bereit.«
Miguel staunte über die Veränderung, die so weniger Mittel bedurfte und eine so große Wirkung hatte. Carlos Alberto sah wieder aus wie der Edelmann, den er auf dem Schiff kennengelernt hatte. Kurz fragte Miguel sich, ob er in den ganzen zehn Monaten auf See nur die Fassade zu sehen bekommen hatte und nie den echten Carlos Alberto, doch er schüttelte den beunruhigenden Gedanken ab. Er hatte für heute genug Ärger gehabt. Jetzt wollte er sich amüsieren.
Sein Freund führte ihn in ein Etablissement, in dem die Luft drückend und die Beleuchtung spärlich war. Aber der
feni,
der lokale Cajú-Schnaps, brannte köstlich in der Kehle und spülte alle Sorgen weg. Die Mädchen, bildhübsche Halbinderinnen die meisten, waren warm und anschmiegsam, die anderen Gäste des Lokals gut gelaunt. Miguel wusste nicht, wie lange sie schon so dort gesessen hatten, als sie begannen, in jeder Runde auf einen anderen Hindu-Gott zu trinken.
»Auf Shiva!«
»Auf Vishnu!«
»Auf Ganesh!«
Die meisten davon kannte Miguel gar nicht, denn die Inder sprachen nicht gern davon – sie waren schließlich Christen, oder? –, und Abbilder hinduistischer Gottheiten oder gar Tempel waren systematisch zerstört worden. Oft war an ihrer Stelle eine Kirche errichtet worden.
Gerade hob er sein Glas, um auf Rama zu trinken, als Carlos Alberto ihn unsanft anrempelte. »Scht!«
»Was ist los, mein Alter«, lallte Miguel, dem das Spielchen Spaß machte.
»Da ist gerade ein Pfaffe reingekommen.«
Miguel lachte schallend. »Nanu, und was hat der hier verloren?«, fragte er eine Spur zu laut. »Oder will er noch etwas verlieren? Seine Keuschheit zum Beispiel?«
»Er spioniert«, raunte Carlos Alberto ihm zu. »Er sucht nach solchen Leuten wie dir, um sie des Ketzertums zu bezichtigen und ihnen ihr Vermögen abzuknöpfen. Also halt jetzt sofort die Klappe.«
»Ach was, der will sich doch nur die Mädchen ansehen. Wer könnte es ihm verdenken. Außerdem sieht er gar nicht aus wie ein Geistlicher.« Miguel hob sein Glas erneut. »Na dann eben auf, ähm, wie heißt noch mal die Schutzpatronin der gefallenen Mädchen?« Vor Lachen verschluckte er sich fast an seinem Feni.
»Komm, lass uns lieber gehen. Bevor dir noch etwas herausrutscht, was du später bereust.« Damit zerrte Carlos Alberto seinen Freund am Ärmel aus der Spelunke. Er hatte einen Geistesblitz gehabt. Und wenn er seinen Plan erfolgreich durchführen wollte, benötigte er dafür Miguels Hilfe. Im Kerker würde er ihm wenig nützen.
»Du schläfst heute Nacht bei mir, mein Freund«, sagte Carlos Alberto, als sie, durch den Regen plötzlich ernüchtert, auf der Straße standen.
Miguel fügte sich, obwohl er sich fragte, wo in diesem Loch, das Carlos Alberto sein Zuhause nannte, noch Platz für ihn sein sollte. Doch wo sollte er sonst übernachten? Der Ritt nach Hause war ohnehin ein gewaltiges
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