Der indigoblaue Schleier
sein Erbe in Form von Ländereien sowie des Jagdschlösschens in Sintra ausgezahlt bekommen. Die Firma jedoch sollte in der Hand eines einzigen Mannes bleiben – in der seines Bruders.
Wahrscheinlich, so grübelte Miguel, während er auf der Verandabank saß und dem Regen lauschte, der gerade wieder einsetzte, hätte er es an seines Vaters Stelle genauso gehandhabt. Zwei vom Wesen her so unterschiedliche Brüder hätten nur Zwist bedeutet, der letztlich dem Unternehmen geschadet hätte. Und war es nicht auch schön, fern der Heimat zu sein, fern der manchmal erdrückenden elterlichen Fürsorge, und die Möglichkeit zu haben, etwas Eigenes aufzubauen? Wenn er nur schon eine gewinnträchtige Idee hätte!
Miguel verschränkte die Arme vor seiner Brust und rieb sich mit den Händen die Oberarme. Es hatte aufgefrischt. Plötzlich merkte er auch, wie stark der Geräuschpegel um ihn herum gestiegen war. Laut war es, trotz aller Abgeschiedenheit des Anwesens: Die Frösche gaben ein ohrenbetäubendes Konzert, das Wasser plätscherte in Sturzbächen aus der Regenrinne, und der Wind toste in den Bäumen.
Als auch die Veranda keinen Schutz mehr vor dem hereinsprühenden Regen bot, zog Miguel sich ins Haus zurück. Er holte vier abgenutzte Lyoner Kartenspiele und setzte sich damit an den Esstisch, der höher und größer war als die Beistelltische im Salon. Dann tat er das, was er schon immer am besten gekonnt hatte und was ihm ein Gefühl tiefer Zufriedenheit einflößte: Er mischte die Karten, deckte sie schnell hintereinander auf und verteilte sie auf acht Stapel, um anschließend jede Karte genau an ihrem Platz wiederzufinden. Trois de pique? Befand sich in Stapel eins an fünfter Stelle, in Stapel drei an zwanzigster, in Stapel sechs an sechzehnter und in Stapel sieben an unterster. Miguel liebte diese Gedächtnisübung, denn er empfand sie als äußerst beruhigend.
Da er selber nicht nachprüfen konnte, ob seine Aussagen richtig waren – denn dafür hätte er ja erneut in die Stapel schauen müssen –, rief er einen Diener, der das für ihn kontrollieren sollte. Der Diener machte große Augen, als er Miguel die Karten korrekt zuordnen sah, äußerte sich aber mit keiner Silbe zu dem merkwürdigen Spiel, mit dem sich sein Herr da vergnügte. Allerdings prägte er sich alles genau ein, denn die anderen Dienstboten würden ihn später mit Fragen bestürmen, wofür der Senhor ihn so lange im Speisesaal gebraucht hatte, und er, Babu, wollte seine Erzählung mit möglichst vielen Details ausschmücken, die er notfalls auch erfinden konnte.
Ein leises, irgendwie abwesend wirkendes Lächeln umspielte Miguels Lippen, und erst bei der Herz Dame – da hatte er bereits 192 Karten korrekt zugeordnet – verließ ihn dieses Lächeln. Dame de Cœur? Miguel sah Dona Ambas geheimnisvollen blauen Schleier vor seinem geistigen Auge, und er meinte, hell klingende Fußkettchen zu vernehmen. Erster Stapel, erste Karte? Babu, der unaufgeregt nachsah, weil er sich nach dem bisherigen Spielverlauf gar nicht vorstellen konnte, dass sein Herr versagte, stieß einen kleinen Überraschungslaut aus. »Oh! Nein, Senhor, das ist leider nicht richtig.«
»Nein. Und weißt du was, Babu? Ich habe keine Ahnung, wo sie steckt, die verflixte Herz Dame. Wie’s scheint, will sie nicht gefunden werden.«
Babu wurde entlassen und eilte zu den anderen zurück, die schon neugierig auf seinen Bericht warteten. Besonders den alten Phanishwar befriedigte es sehr, dass der junge Senhor ein so sonderliches Benehmen an den Tag legte. Sie hatten Wetten darauf abgeschlossen, wie lange Miguel brauchen würde, um in dem Wetter den Verstand zu verlieren, wie sie es bei den neu eingetroffenen Portugiesen schon so oft beobachtet hatten. Wie es aussah, war der junge Mann nicht sehr standhaft und erlag den Prüfungen des Monsuns, noch bevor sich dieser zu seiner ganzen Gewalt aufgeschwungen hatte. Phanishwar rieb sich die Hände – er würde die Wette gewinnen.
Doch Phanishwar, der Stallknecht, täuschte sich. Denn bereits wenige Tage später sah man den Hausherrn, die Schultern gestrafft, das Haar zurückgebunden, mit konzentrierter Miene über den dicken Büchern mit ihren abgegriffenen Ledereinbänden sitzen. Jedes Dokument, das auch nur das Mindeste mit dem Einkauf, der Verpackung oder der Verfrachtung der kostbaren Ware zu tun hatte, war abgeheftet worden. Doch trotz der großen Sorgfalt, die Senhor Furtado offensichtlich in der Buchführung walten
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