Der indigoblaue Schleier
mit nach unten nehmen und nie zurückbringen? Miguel fand seine Schuhe mit schönster Regelmäßigkeit vor der Tür, wo der Junge immerhin den Anstand besessen hatte, sie ordentlich nebeneinander aufzustellen, und das in dem überdachten Bereich, so dass es wenigstens nicht hineinregnete. Allerdings war schon einmal eine kleine Schlange aus einem Stiefel hervorgekrochen.
Miguel war fassungslos angesichts der Arbeitsweise seiner indischen Domestiken. Kein Wunder, dass die Leute hier so viele Dienstboten brauchten. Es war aber nicht allein das Kastensystem, das, wie man ihm erklärt hatte, daran schuld war. So erachtete es zum Beispiel eine Wäscherin unter ihrer Würde, Nachttöpfe zu leeren, obwohl sie mit der verschmutzten Leibwäsche fremder Leute offenbar keine Probleme hatte.
Miguel hatte vielmehr den Verdacht, dass eine Art von Stumpfheit diese Leute befallen hatte. Wenn er sie aufforderte, bestimmte Dinge zu tun, die eigentlich keiner Aufforderung bedurft hätten, etwa angeschmorte Bienenleichen aus den Lampenschirmen und Windlichtern zu entfernen, dann taten sie es sofort und ohne zu murren. Doch schon die nächste Bienenleiche wurde wieder übersehen. War das Mutwilligkeit? Er glaubte es nicht. Er merkte ja bereits an sich selbst, welche Trägheit ihn überkam. Er musste aufpassen, wenn er nicht so enden wollte wie seine Diener.
Das Wetter lähmte nicht nur ihn. Das Leben lag vier Monate brach in Goa. Von Juni bis September konnten die Fischer nicht ausfahren, die Bauern ihre Felder nicht bestellen, die Zimmerleute und Maurer keine Häuser errichten. Vier Monate lang waren die meisten Wege unpassierbar und wurde die Wäsche nicht richtig trocken. Schimmel bildete sich allenthalben, wahrscheinlich auch, so mutmaßte Miguel, schon in seinem Kopf. Es war eine Zeit, die bei den Portugiesen ihre
saudades,
ihre Wehmut und Sehnsucht nach der Heimat, nährte. Einige suchten Trost in der Kirche, andere im Trunk. Merkwürdig fand Miguel, dass die Inder dem Regen so vollkommen gelassen gegenüberstanden. Auf seine diesbezügliche Frage hatte Furtado ihm geantwortet, dass ergiebiger Regen zum Überleben nun einmal notwendig sei und dass die Bevölkerung ihn deshalb begrüßte. Einer seiner Diener, Gopal, hatte es poetischer ausgedrückt: »Die Erde hat Durst, Herr. Wie kann sie uns mit ihren Gaben beschenken, wenn wir den Regen verfluchen?«
Also schön. Das Wasser sei der Erde gegönnt, sagte Miguel sich. Vielleicht sollte er sich ein wenig von der Schicksalsergebenheit seiner Dienerschaft abschauen und das Beste aus der Lage machen. Bei schönerem Wetter hätte er schließlich erst recht keine Lust, die Rechnungsbücher durchzusehen. Und er musste sich ja gar nicht selbst in die Stadt begeben. Er würde einen Burschen hinschicken und ihm eine Botschaft für Senhor Furtado mitgeben, dass man ihm die Bücher aushändigen möge. Er, Miguel, wolle sie in aller Ruhe hier im Solar das Mangueiras durchsehen.
Allein die Aussicht darauf, sich mit endlosen Zahlenkolonnen abgeben zu müssen, verdarb Miguel die Stimmung. Dabei war er gut darin. Er hatte diesen unglaublich scharfen Blick für Zahlen, so dass ihm schon beim bloßen Überfliegen einer Liste sofort die kleinste Ungenauigkeit ins Auge sprang. Zusammen mit seinem phänomenalen Zahlengedächtnis waren das Gaben, um die ihn jeder Buchhalter beneidet hätte. Miguel selber fand diese einseitige Begabung ein bisschen lästig. Er wusste bis heute, wie viele
toneladas
ein x-beliebiges Schiff geladen hatte, das vor über zehn Jahren in Lissabon eingetroffen war, und er konnte keiner Erzählung lauschen, ohne zugleich im Kopf mitzurechnen, ob die berichteten Daten, Mengen oder Preise stimmten. Meistens taten sie es nicht. Die Leute nahmen es nie so genau mit Zahlen und verstrickten sich in Widersprüche, die keiner außer ihm je aufdeckte.
Außer vielleicht sein Bruder. Denn Bartolomeu war ein ähnlich begnadeter Zahlenjongleur wie Miguel. Darüber hinaus war er mit einem feinen Gespür dafür, was die gesellschaftlichen Konventionen erlaubten und was nicht, gesegnet. Dies machte ihn zum idealen Nachfolger im väterlichen Handelshaus, mehr noch als der Umstand, dass er der Erstgeborene war. Wäre Bartolomeu ein Träumer gewesen, ein Poet oder Maler, hätte ihr Vater ihm sicher nicht die Leitung des Geschäfts in Aussicht gestellt. Der Fortbestand des Handelshauses in seiner ganzen Größe war für die Familie Ribeiro Cruz von immenser Bedeutung. Miguel würde eines Tages
Weitere Kostenlose Bücher