Der indigoblaue Schleier
ließ, tat Miguel sich schwer damit. Die handschriftlichen Einträge waren sehr klein und verschnörkelt, so dass er sie kaum entziffern konnte. Und als er sich endlich an die befremdliche Schrift und die zuweilen recht eigensinnige Schreibweise gewöhnt hatte, taten ihm die Augen und der Rücken weh. Stundenlang bei Kerzenlicht diese Seiten studieren zu müssen war eine einzige Quälerei – noch dazu, wenn man nicht den kleinsten Fehler entdecken konnte.
Beschämt brachte er Senhor Furtado die Bücher zurück, und zwar nicht durch Boten, sondern eigenhändig. Um Entschuldigung würde er den Mann natürlich nicht bitten, schließlich war er, Miguel, zu genau diesem Behufe in die Kolonie entsandt worden. Doch er würde ihn beschwichtigen müssen, denn Senhor Furtado war sehr erzürnt gewesen. So hatte es der Bursche, der die Bücher abgeholt hatte, berichtet.
Es waren nur wenige Meilen vom Solar das Mangueiras in die Stadt, doch es hätten auch Ozeane dazwischenliegen können. Die Wege waren derart überflutet, dass es fast den ganzen Tag dauerte, sich durch den Schlamm zu kämpfen. Da ein Durchkommen mit der Kutsche unmöglich war, war Miguel zusammen mit drei weiteren Männern zu Pferd aufgebrochen. Jeder von ihnen transportierte einen Teil der Bücher, die doppelt in Segeltuch eingeschlagen waren und solchermaßen geschützt eigentlich keinen Schaden nehmen sollten. Doch unterwegs scheute ein Pferd, weil unmittelbar vor ihm ein riesiger Ast von einem Baum herabfiel, und eines der Buchpakete landete in einer braunen Pfütze. Sie holten es so schnell wie möglich heraus, dennoch fürchtete Miguel, dass Wasser in das Paket eingedrungen war.
Mit zerknirschter Miene lieferte er die Bücher im Kontorhaus bei Senhor Furtado ab.
»Lasst uns nachsehen, ob alle Unterlagen die Reise heil überstanden haben«, schlug Miguel vor. Zwei Diener halfen ihnen, das gewachste Segeltuch zu entfernen. Alles war trocken geblieben. Miguel atmete erleichtert auf.
»Mein lieber Senhor Furtado, eine so tadellose Buchhaltung wie die Eure habe ich nie zuvor gesehen.«
»Natürlich nicht«, erwiderte der Inder, in dessen aufgesetzt demütigem Tonfall auch Stolz und Arroganz mitschwangen. »Ich prüfe die Bücher schließlich regelmäßig selber.« Er ärgerte sich maßlos über den jungen Mann, der es wagte, seine Kompetenz in Frage zu stellen. Noch mehr erboste ihn die Überheblichkeit des Portugiesen, der es als unerfahrener Jungspund wagte, mit einem alten Hasen wie ihm zu reden wie ein Lehrer mit einem Kind. Wie konnte der junge Ribeiro Cruz sich erdreisten, ihn zu loben?
»Und – was meint Ihr: Wo liegt der Fehler? Hier geht ja anscheinend alles mit rechten Dingen zu.«
Furtado schluckte. Die Frage war ebenso dumm wie frech. »Selbstverständlich geht hier alles rechtens zu. Und glaubt mir, Senhor, wenn ich wüsste, wo ›der Fehler‹ liegt, wie Ihr es zu formulieren beliebt, obwohl ich lieber von Diebstahl sprechen würde, dann hätte ich Euch längst darüber informiert. Nichts behagt mir weniger als der Schatten des Verdachts, der auf mir liegt – auf mir, Fernando José Sebastião Furtado Carvalho dos Santos, der ich seit über dreißig Jahren im Dienst des Handelshauses Eures hochgeschätzten Herrn Vaters stehe.«
Miguel freute sich. Er hatte seine Frage absichtlich so formuliert, dass er Furtado damit aus der Fassung bringen musste. Anders wäre aus dieser undurchdringlichen Mimik, die sich immerzu in die Unterwürfigkeit flüchtete, überhaupt nichts herauszulesen. So allerdings, mit vor Empörung bebender Unterlippe, verriet Furtados Gesicht ebenfalls nicht viel über das, was er wirklich dachte.
»Es liegt mir fern, Euch zu beleidigen, Senhor Furtado. Ich habe Euch als einen ehrlichen und gastfreundlichen Menschen kennengelernt, und Eure Meinung ist mir wichtig. Wer also, glaubt Ihr, steckt hinter diesen ›Diebstählen‹ – sofern es sich denn um einen fortgesetzten Betrug und nicht um Schludrigkeit oder Unfähigkeit handelt?«
Furtado schluckte. Wie sollte er dem jungen Ribeiro Cruz seinen Verdacht darlegen, ohne nun seinerseits beleidigend zu werden?
»Im vergangenen Jahr haben wir rund 10 000 Sack Pfeffer, 9000 Sack Nelken sowie weitere 7000 Sack verschiedener anderer Gewürze nach Portugal geschickt. Es …«
»Ich weiß. Es handelte sich um 10 791 Sack Pfeffer, 8978 Sack Nelken, 2398 Sack Zimt, 1960 Sack Vanille, 1705 Sack Kardamom sowie 943 Sack Anis.«
»Exakt.« Furtado zeigte seine Verwunderung
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