Der Insulaner
Ziel. Sein Pfeil flog davon, ohne jedoch zu treffen, aber die Zuschauer waren zutiefst beeindruckt, dass er es als völlig unerfahrener Schütze tatsächlich geschafft hatte, die Sehne des Bogens fachmännisch zu spannen.
Bis zum Spätnachmittag traf Hael bereits die einfacheren Ziele. Er wusste, dass er diese Waffe in Kürze meistern würde. Seit seiner Kindheit war er daran gewöhnt, Geschwindigkeit und Genauigkeit beim Speerwurf zu berechnen, und beim Bogenschießen war es ähnlich, wenn man sich erst einmal an die Waffe und die Benutzung bestimmter Muskeln gewöhnt hatte. Arme, Schultern und Rücken hatten nicht besonders unter dem Spannen gelitten, aber die Finger der rechten Hand, die die Sehne hielten, zitterten bei den letzten Schüssen vor Anstrengung.
Bei Einbruch der Dämmerung legte sich Stille über den Ort, da auch die letzten Matwa vom Feiern erschöpft waren. Hael hatte kaum Gelegenheit gehabt, sich mit Deena zu unterhalten, denn ihre Mutter hatte darauf bestanden, die Tochter sei noch krank und sie hinter dem durch Vorhänge abgeteilten Schlafbereich ihres Hauses gehalten. Sie erlaubte ihm, ein paar Minuten bei Deena zu verbringen, scheuchte ihn dann aber mit den Worten aus dem Haus, das Mädchen brauche Ruhe und er solle zurückkommen, wenn sie das verlorene Gewicht wieder aufgeholt hätte. Vielleicht sei es in paar Monaten soweit.
Am nächsten Tag, während Deena ruhte und Boten davoneilten, um so viele Matwahäuptlinge wie möglich herbeizuholen, übte sich Hael unermüdlich im Bogenschießen. Er wusste, dass er vielleicht nie so gut werden würde wie die Männer, die von Kindesbeinen an mit dieser Waffe umgingen, aber schon nach kurzer Zeit erwies er sich als geschickt und zielsicher.
Sobald er den Bogen gut genug beherrschte, unternahm er etwas, was den Verdacht, es sei schlecht um seinen Geisteszustand bestellt, noch verstärkte. Hael übte das Schießen vom Rücken seines Cabos aus. Zuerst stand das Tier still. Als ihm gute Treffer gelangen, versuchte er es aus dem Schritt. Im Trab wurde er so durchgeschüttelt, dass ein Zielen unmöglich war, aber im Galopp ging es bedeutend besser. Die Länge des Bogens erschwerte den Umgang mit der Waffe beim Reiten, denn wann immer er die Seite wechseln wollte, musste er den Langbogen hoch über den Hals des Tieres heben.
Die Matwa beobachteten diese seltsamen Geschehnisse staunend und schließlich voller Bewunderung. Ihr anfängliches Misstrauen wandelte sich in widerwillige Anerkennung, während Hael an mannshohen Zielen vorübergaloppierte und so viele Pfeile wie möglich abschoss. Meistens traf er die am nächsten stehenden Säcke. Ihm fiel auf, dass die jüngeren Männer und Knaben großen Gefallen an seiner Darbietung fanden, während die älteren Krieger verächtlich den Kopf schüttelten. Nach einer Weile erteilte Hael etlichen jungen Matwa Reitunterricht.
Afram gehörte zu den Zweiflern. »Die Jungen finden es aufregend, weil es etwas Neues für sie ist«, erklärte der Häuptling eines Tages, als sich Hael nach einer anstrengenden Unterrichtsstunde den Schweiß von der Stirn wischte. Ein Knabe saß auf dem Cabo und feuerte auf ein weit entferntes Ziel, während das Tier zufrieden graste. »Aber das ist doch kein richtiges Schießen! Ich gebe zu, es sieht beeindruckend aus. Aber du musst erstmal ein Ziel treffen, das weiter als dreißig oder vierzig Schritt entfernt steht, wenn sich das Cabo bewegt.«
Hael grinste. »Ich zeige euch doch nur, dass es geht. Bis vor wenigen Tagen hatte ich noch nie einen Bogen in der Hand, und meine Caboerfahrung ist auch nicht überwältigend. Wenn aber wahrhaft meisterhafte Bogenschützen zu Caboreitern werden – was dann? Natürlich müssten die Bögen kleiner sein. Das darf ihre Genauigkeit jedoch nicht beeinträchtigen. Vielleicht gelingt es, wenn man mehr Horn und Sehnen anbringt und die Krümmung des Bogens vergrößert.«
Afram schnaubte entrüstet. »Unsere Bögen verkleinern? Wo man uns als Langbogenvolk bezeichnet? Du könntest ebenso gut verlangen, dass wir unsere … nun, auch egal. Die Männer wären niemals einverstanden.«
»Die Knaben aber«, wandte Hael ein. »Und aus begeisterten Knaben werden mutige Krieger.«
Afram schüttelte den Kopf. »Du hast mich nicht überzeugt, und ich bin dir wirklich gewogen, mein Junge. Ich mag gar nicht daran denken, wie meine Brüder deine Idee aufnehmen werden.«
Während der nächsten Wochen trafen die Matwahäuptlinge ein, und allen führte man
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