Der italienische Geliebte (German Edition)
unaufgeräumt war, oder wenigstens nur so unaufgeräumt, dass es kreativ wirkte. Als sie die Bücher und Papiere auf seinem Schreibtisch gerade richtete – nur ganz vorsichtig, Milo hasste es, wenn andere seine Sachen anrührten –, bemerkte sie, dass er mit seinem neuen Roman noch immer nicht über Seite 179 hinausgekommen war. Der arme Milo, er war immer so gereizt, wenn ihm die Arbeit nicht von der Hand ging. Sie zog die Jalousie herunter und schloss die Tür hinter sich, als sie hinausging.
Im Esszimmer warteten auf einem Ende des langen Tischs Stapel von Tellern, Besteck und Servietten. Die Skizzen, die sie am Morgen gemacht hatte, lagen noch auf der Schreibplatte ihres kleinen Sekretärs, und sie nahm sie an sich. Sie zeichnete nur noch selten, aber am Morgen hatte sie bei dem prachtvollen Wintersonnenschein, der durch das Fenster strömte, plötzlich Lust bekommen, einen Strauß Schneeglöckchen zu zeichnen, den sie am Tag zuvor gepflückt hatte. Sie sah die Blätter durch. Die meisten würde sie wegwerfen, eine Zeichnung war ganz gut. Sie schob sie in die Schublade und knüllte die anderen zusammen. Nichts als Zeitverschwendung, genau besehen.
Sie sah auf die Uhr. Nach sechs. Die Gäste würden in knapp einer Stunde hier sein. Rebecca schenkte sich einen Gin mit Zitrone ein und ging nach oben, um sich ein Bad einlaufen zu lassen. Mit ihrem Drink im warmen Wasser ausgestreckt entspannte sie sich allmählich, die erste leise Vorfreude auf den Abend regte sich. Nur ungern stieg sie aus der Wanne – viel lieber wäre sie noch eine Weile liegen geblieben –, aber sie raffte sich auf und rubbelte sich energisch trocken. Im Bademantel trat sie ins Schlafzimmer. Das rote Kleid hing auf seinem gepolsterten Bügel an der Schranktür. Rebecca betrachtete es zweifelnd und strich sich mit den Händen über die Hüften. Milo hatte ein paar von seinen Mänaden eingeladen. Er hatte darauf bestanden. ›Sie kommen jede Woche treu zu meiner Vorlesung und hören sich geduldig mein Geschwafel an‹, hatte er zu ihr gesagt. Rebecca hatte diese besonderen Mänaden noch nicht kennengelernt, aber ihre Vorgängerinnen waren häufig gertenschlanke knabenhafte junge Frauen gewesen. Sie selbst war seit ihrem vierzehnten Lebensjahr nicht mehr gertenschlank und knabenhaft.
Sie setzte sich vor ihren Toilettentisch und schaute in den Spiegel. Das ungeschminkte Gesicht unter dem zum Turban geschlungenen Handtuch, das ihr Haar verbarg, wirkte nackt und verletzlich. Sie zupfte an der Haut in den Augenwinkeln, war sie schlaffer geworden? Dann hob sie das Kinn, um ihren Hals zu prüfen. Rebecca graute genauso wie ihrer Schwester Meriel davor, dass ihr Hals einmal aussehen würde wie der ihrer Mutter, bei dem die Sehnen wie straff gespannte Stricke unter der plissierten Haut hervorstanden.
Rebeccas Stimmung rutschte wieder ab und sie kippte hastig einen großen Schluck Gin. Morgen mussten sie und Meriel ihre Mutter besuchen. Diese monatlichen Besuche, das grässliche Einerlei – das Herumsitzen in dem dunklen altmodischen Haus, während ihre Mutter sich für den Ausflug zurechtmachte, ihr ständiges Herumkritteln an der Fahrweise ihrer Tochter, ganz gleich, welche von ihnen fuhr, – waren immer niederdrückend.
Sie und Meriel mochten nicht viel gemeinsam haben, hatte Rebecca einmal zu ihrer Schwester gesagt, aber sie wussten beide, dass sie, eine wie die andere, auf ihre Art die Mutter enttäuscht hatten. Natürlich würde sie morgen das Restaurant, das sie wählten, wieder unmöglich finden; natürlich würden sie danach wieder beim Tee, der immer irgendwie merkwürdig schmeckte, obwohl es Ceylon war, in dem tristen Haus in Abingdon sitzen, wo die Stille, die Spannung, der tappende Schritt des alten Hausmädchens einen ganz verrückt machten. Und irgendwann würde ihre Mutter sagen: ›Da es keiner meiner Töchter eingefallen ist, mir ein Enkelkind zu schenken…‹ Ein Vorwurf, der, weil so unabwendbar wie das Amen in der Kirche, Rebecca und Meriel manchmal zu beinahe hysterischem Lachen reizte, das schleunigst unterdrückt werden musste, und der doch immer noch verletzte.
Gerade Meriel gegenüber war es gemein, so etwas zu sagen. Meriel, die zwei Jahre älter war als Rebecca, hatte ihre Hoffnungen auf ein Kind begraben müssen, als ihr Verlobter, David Rutherford, 1916 in der Schlacht an der Somme gefallen war. Sie hatte danach nie wieder einen Mann geliebt, bis sie Dr. Hughes begegnet war, der die Mädchen
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