Der italienische Geliebte (German Edition)
Stadt war die Spannung zum Greifen, schien in der Luft zu zittern wie die zu straff gespannte Saite einer Geige. Im Laden kicherten und kreischten die Frauen beim geringsten Anlass oder weinten beim Briefschreiben an ihre Verlobten beim Militär.
Die allgemeine Unruhe steckte auch Tessa an. Sie ging viel spazieren, sie rauchte viel und schrieb Briefe an Freddie, in denen sie sie anflehte, aufs Land zu übersiedeln, nach Land’s End, John o’Groats, so weit weg wie möglich von der Hauptstadt, wo die Bomben fallen würden. Eines Tages Anfang Mai machte sie einen Spaziergang in den Boboli-Gärten. Sie ging die lange Hauptallee hinunter, als sie ihn sah. Guido war in Begleitung seiner Frau und seiner kleinen Tochter. Er war weder dicklich noch war sein Haar schütter, sie erkannte ihn augenblicklich. Sie überlegte, ob sie umdrehen und davonlaufen und sich hinter den Zypressen auf der Seite verstecken sollte. Aber irgendetwas trieb sie vorwärts, vielleicht der Wille, sich selbst auf die Probe zu stellen. Vielleicht würde er sie gar nicht erkennen. Sie war älter, unscheinbarer geworden – das kurze Haar, die Narbe auf der Stirn.
Sie kamen näher: Seine Frau, schlank und blond in einem weißen Kostüm mit erdbeerroter Bluse und einem Hut gleicher Farbe, lachte über irgendetwas. Das Kind im Sportwagen hatte hellblonde Locken und trug ein weißes Rüschenkleidchen. Sie gingen vorbei – er hatte sie nicht erkannt – die Geschichte war vorbei. Ja, natürlich. Es war ja so lange her.
»Tessa!«
Der Klang seiner Stimme; sie erinnerte sich, wie diese Stimme sie früher elektrisiert hatte. Sie drehte sich herum.
»Tessa, du bist es wirklich.« Er ging auf sie zu.
»Hallo, Guido«, sagte sie. »Wie geht es dir?«
»Sehr gut. Und dir?« Sein Blick verriet Verwirrung und Schock. Und auch Freude, dachte sie. »Was für ein außerordentlicher Zufall, dich hier zu sehen«, sagte er. »Wo bist du abgestiegen?«
Seine Frau sagte sanft: » Amore …«
»Ich bitte um Entschuldigung. Maddalena, das ist Tessa –«
»Tessa Bruno.« Sie reicht Maddalena Zanetti die Hand. »Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Signora.«
»Ganz meinerseits, Signora Bruno.«
Tessa sah lächelnd zu dem Kind im Sportwagen hinunter. »Was für ein entzückendes kleines Mädchen.«
»Sie heißt Lucia«, sagte Maddalena, »aber wir nennen sie immer Luciella.«
»Wie alt ist sie?«
»Fast drei.«
»Sie sind sicher sehr stolz auf sie.« Sie fügte hinzu: »Guido und ich kennen uns aus unserer Kindheit.«
»Bist du zu Besuch hier?«, fragte Guido. »Wie lange bleibst du?«
»Ich lebe hier«, antwortete sie. »Und jetzt –«, ein schneller Blick auf ihre Uhr, »muss ich leider gehen. Ich bin ein bisschen in Eile. Es war wirklich schön, euch beide zu treffen.« Neuerliches Händeschütteln. »Auf Wiedersehen, Guido. Auf Wiedersehen, Signora.«
Sie ging weiter, die Allee hinunter. Damals, im Sommer 1933, hatte sie es immer gespürt, wenn er sie ansah. Beim Abendessen ein Blick über den Tisch, und da war er – gut aussehend, dunkel, unruhig, grüblerisch. Auf dem Heimweg von der Schule ein Gefühl, als zöge etwas an ihr, und wenn sie aufschaute, sah sie ihn auf der anderen Seite der Piazza stehen. Als wären sie durch ein unsichtbares Band miteinander verknüpft. Auch jetzt spürte sie es, spürte seinen Blick wie ein Brennen in ihrem Rücken. Sie ballte die Fäuste und beschleunigte ihren Schritt.
Zwei Tage nach ihrem Zusammentreffen in den Boboli-Gärten wartete er vor ihrem Haus auf sie, als sie von der Arbeit kam.
»Guido«, sagte sie. »Wie hast du mich gefunden?«
»Ich habe herumgefragt. Es war nicht schwierig. Du arbeitest bei Ornella, nicht?« So hieß das Modegeschäft. »Ich kenne jeden in der Via de’ Tornabuoni«, fügte er hinzu. »Es wundert mich, dass wir uns nicht schon früher über den Weg gelaufen sind.«
Er blickte die Gasse hinunter. An langen Leinen über ihnen hingen Wäschestücke schlaff in der stillen Luft. Ein Mann in einer zerrissenen Arbeitshose und einem ölverschmierten Unterhemd schraubte an einem Motorrad herum. Kindern spielten mit einer Orangenkiste, zogen sie als Auto über das holprige Pflaster und stritten sich, wer sich hineinsetzen durfte. Guido verzog ein klein wenig den Mund.
»Ich verstehe dich nicht, Tessa«, sagte er. »Warum hast du mich nicht angerufen? Warum hast du mich nicht wissen lassen, dass du wieder
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