Der Jade-Pavillon
haben noch Tifei, unseren Sohn. Er wird heiraten und einen Erben zeugen. Man wirft sein Leben nicht weg, wenn man noch einen Sohn hat. Die Huangs werden weiter bestehen.«
»Du sagst es, als hätten wir nie eine Tochter gehabt.«
»Ich sage es, weil unsere Tochter gestorben ist. Millionen Töchter sterben, und die Eltern müssen es hinnehmen. Auch mein Herz ist zersprungen wie deins – aber das Leben geht weiter. Keli, deine Kinder warten.«
»Welche Kinder?« fragte Huang dumpf.
»Die in der Schule. Du bist ihr Lehrer und Vorbild, enttäusche sie nicht.«
»Ich werde das neue Haus in die Luft sprengen!« sagte Huang und erhob sich mit einem tiefen Ächzen. »Ich werde den Büffel schlachten. Ich will nichts mehr um mich haben, was mich an Lida erinnert. Ja, das Leben geht weiter, aber es wird nichts mehr so sein wie früher.«
Aber er sprengte das Haus nicht in die Luft – er ging hinein, setzte sich auf Lidas Bett, vergrub das Gesicht in den Händen und weinte haltlos wie ein Kind.
In Beijing geschah zehn Tage später etwas schier Unbegreifliches, was heimlichen Beifall auslöste und eine spöttische Genugtuung.
Die Geheimpolizei hatte Bai Hongda pausenlos verhört, geschlagen und gefoltert, aber ihn nicht umgebracht, denn man wollte ihm öffentlich den Prozeß machen, vor den Augen und Ohren der ganzen Welt, zum Beweis, daß die Niederschlagung des Aufstands notwendig gewesen war, um China vor dem Chaos zu retten. Das Urteil über Bai und zehn seiner Mitstreiter stand bereits fest, sollte aber erst nach dem Schauprozeß verkündet werden. Dann sollten die Tore nach China wieder aufgestoßen und vorsichtig die neue Zeit hereingelassen werden. Das Reformwerk Deng Xiaopings sollte fortgesetzt werden.
Um Bai und seine zehn Mitverschwörer in Sicherheit zu wissen, wurden sie bis zum Beginn des Prozesses an einen geheimen Ort gebracht. An einem warmen, sonnigen Morgen wurden die elf Aufrührer in einem vergitterten Gefangenenbus abtransportiert. Sie durften nichts mitnehmen als ihre Zahnbürsten, und sie steckten sie in ihre Hosentaschen und bestiegen ruhig, ihren Wächtern freundlich zunickend, den Bus. Dann fuhren sie von Beijing in Richtung der Ming-Gräber. Die Bewacher, vier mit Maschinenpistolen Bewaffnete, unterhielten sich mit ihnen. Bai war sehr fröhlich und erzählte sogar Witze, so daß alle lachten.
Der Bus rollte an Feldern und Bauernhäusern vorbei, und als sie durch Buschwald kamen, stand Bai Hongda plötzlich auf. Die anderen zehn folgten ihm, und ehe die vier Bewacher verblüfft fragen konnten, was das solle, und ihre MPs entsicherten, zogen die Gefangenen ihre Zahnbürsten aus den Taschen und setzten sie den Wächtern an den Hals. Die Vier erstarrten, und ihre Augen weiteten sich in Todesangst, denn an den Zahnbürsten waren Rasierklingen befestigt, und ein einziger Schnitt genügte, einem Mann die Kehle zu durchtrennen.
Während vier Studenten den Bewachern die Maschinenpistolen aus den gelähmten Händen zogen, ging Bai Hongda nach vorn zum Fahrer, setzte ihm seine Zahnbürste an die Kehle und sagte freundlich: »Halte an, mein unbekannter Bruder. Sicherlich hast du eine Frau und Kinder und willst sie wiedersehen und noch lange mit ihnen leben. Nicht jeder ist ein Held, das kann man nicht verlangen. Halt an und lebe weiter.«
Der Fahrer bremste sofort, mit der Rasierklinge am Hals öffnete er die abgeschlossene Tür und stieß sie auf, und die Studenten stürzten ins Freie und verschwanden in den Büschen.
Als letzter verließ Bai Hongda den Bus, überreichte dem Fahrer seine Zahnbürste mit der Klinge und sagte: »Zum Andenken, und damit man euch auch glaubt, daß ihr euch nicht wehren konntet. Ihr würdet sonst Schwierigkeiten bekommen, und das möchte ich nicht. Und laß die alten Männer wissen: China wird eines Tages Demokratie und Freiheit bekommen, denn die Welt hat sich verändert, und China kann nur weiterleben, wenn es die Arme ausbreitet.« Er nickte den noch immer wie gelähmt dasitzenden Bewachern zu, sprang aus dem Bus und verschwand wie die anderen in den Büschen.
Man hörte erst zwei Monate später wieder von Bai Hongda; er war in New York, und die CIA sorgte für seinen Schutz. Er wurde zum Helden der Emigranten, und Deng Xiaoping schloß China wieder zu.
Er hatte Zeit, und die Vergeßlichkeit der Welt war schneller, als ein Vogel fliegt.
Lida und Jian blieben verschollen, und man vergaß sie ebenfalls, als habe es sie nie gegeben.
VII: Der Jadegipfel-Tempel
Der
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