Der Jade-Pavillon
öffnen. Der Blick Buddhas liegt in ihren Augen.
Ehrwürdiger Chen Xue, der schlechteste aller Menschen, ein Wurm im Sumpf, der armselige Bauer Yang Ling, kommt zu dir.
Mit seinem aufbrüllenden Kleintraktor erreichte Ling wirklich den kleinen Parkplatz, den die Mönche aus dem Felsplateau gehauen und mit einer Zementschwemme geglättet hatten. Zerzauste Kiefern und windschiefe Azaleenbüsche rahmten den Platz ein und bildeten eine lichte Allee bis zu den über vierzig Treppenstufen, an deren Ende der Jadegipfel-Tempel lag. Die rot, blau und gelb gestrichenen Dachornamente aus Vogelköpfen, Drachenmäulern und allegorischen Figuren umfing noch der Glanz der Nachmittagssonne. An der obersten Stufe der Treppe stand eine gebeugte, in ein verblichenes rotes Priestergewand gewickelte, schmale Knochengestalt und drehte eine Gebetskette durch die fleischlosen Finger.
Ling und Junpei verneigten sich tief. Junpei trug, auf den Rücken geschnallt, das schwere Bündel mit den Geschenken. Sie empfand es nicht als eine Last – sie war glücklich, für Ling das Klosteropfer zu tragen.
Ling, ledig aller Lasten, schlug dreimal die Arme vor die Brust und sagte voll Demut: »Ein Nichtsnutziger, ein Parasit, ein Lebensunwürdiger grüßt dich und bittet dich um deine Hilfe. Auch wenn mein Leben nutzlos ist, o Weiser, möchte ich jetzt noch nicht sterben. Ein paar Jahre möchte ich noch die Sonne auf- und untergehen sehen, möchte meinen Reis wässern, meinen Kohl abschneiden, das Gemüse salzen, den Ingwer aus der Erde ziehen, die Mandarinen pflücken und ein saftiges Schweinchen essen.«
»Du bist also krank?« fragte der Mönch. Er hatte eine tiefe, zittrige Stimme von einer seltsamen Klanglosigkeit.
»Darum liege ich im Staub vor dir, o Meister.«
Chen Xue – er war es wirklich – streckte den Arm aus und zeigte hinüber zu einem verschachtelten, mit vergilbter Farbe bedeckten Gebäude, zu dem ein steiniger Weg führte. Das Wohnhaus der Mönche, in dem sich auch die Küche befand, die Schlafzellen, ein Zimmer mit einem Lehmofen als Versammlungsraum im Winter und hinter einem Gang aus rotbemalten Holzsäulen ein länglicher Raum mit einer Theke und kunstvollen Rollenbildern aller Größen an den Wänden, der Verkaufsraum für die Pilger. Hier konnte man den Jadedrachen-Berg als Jadeschnitzerei oder aus buntem Glas kaufen, Puppen in der Nationaltracht der Naxis, Steinstempel und Pinsel, Tuschen und Halsketten aus den Knochen der Yaks. Und noch viel mehr gab es an der Theke zu kaufen, bunten, industriellen Kitsch, den ein Händler zweimal im Jahr aus Kunming zum Tempel brachte.
»In drei Jahren habt ihr einen richtigen Shop hier!« sagte der Händler, ein munterer Mann vom Stamm der Dongs. »Und dann kommen die Amis und drehen hier ihren ersten lamaistischen Kriminalfilm. Ihr seid entdeckt.«
Aber Chen hatte nur weise den Kopf geschüttelt und nach oben in die weißen Berge der Yulongxue-Shan-Gruppe gezeigt. »Siehst du den Shanzidou?« fragte er. »Dort, halb rechts. Alle Berge des Himalaja haben sie bezwungen, am Shanzidou sind alle Expeditionen gescheitert. Noch nie war ein Mensch auf dem Gipfel. Wie steht es in den uralten Bilderrollen der Dongba-Schriften des Naxi-Volkes? ›Als Himmel und Erde noch nicht getrennt waren, konnte der Steingott noch singen, Bäume konnten laufen und die Steine sprechen.‹ So wird es bleiben, Bruder. Himmel und Erde sind in Lijiang noch immer Geschwister. Der Mensch mag die Erde vernichten, den Shanzidou wird er nie betreten. Es gibt noch Grenzen, die Gott gesetzt hat.«
Ling verstand die Geste des Lamas. Er stieß Junpei an, verneigte sich noch einmal tief vor Chen und kletterte dann den Steinweg zum Wohnhaus der Mönche hinauf. Bevor er die angelehnte, rotlackierte Tür aufstieß, dachte er erschrocken, daß er gar nicht nach Deng Jintao, dem großen Heiler, gefragt hatte, denn es konnte ja sein, daß er am falschen Tag gekommen war und Buddhas heilende Hand mit etwas anderem beschäftigt war. Doch Chen hatte auf diesen Weg gewiesen, was nur bedeuten konnte, daß der geheiligte Deng Jintao bereit für sie war.
Das Geviert des Innengartens war mit Tonziegeln gepflastert, ein paar niedrige alte Holzhocker und kleine, schmale Tische standen herum, Blumen glänzten mit üppigen Blüten, als gäbe es hier am Hang eines Schneeberges nie einen Winter. Voll Stolz und Ehrfurcht aber stand jeder Besucher, der diesen Innenhof betreten durfte, vor einer breitkronigen, knorrigen Magnolie, von der
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