Der Jakobsweg
ersten Wandertag kaum erwarten und bin wahnsinnig aufgeregt. Raus aus Pamplona und auf nach Cizur Menor. Vorerst kriegen meine Augen nur Neubauten aus Stein und Beton sowie asphaltierte Straßen zu sehen. Nicht sehr vielversprechend.
Als wir bald darauf ein kleines Dorf durchqueren, bleibt Inka andauernd an Fliederbüschen stehen und begeistert sich: „Ist das nicht schön?“ Es ist mehr eine Feststellung als eine Frage.
Na ja, ein hübscher kleiner Ort. Aber was mag wohl dahinter liegen? Endlich reißt sie sich von ihren langwierigen Betrachtungen los und es kann weitergehen.
Die weiten Wiesen und Getreidefelder sind ein wahres Vergnügen. Wie wundervoll das raschelt, wenn man da so durchläuft... und ich renne kreuz und quer.
Inka ruft zwar des Öfteren: „Tila, komm zurück!“, aber solange ich das Glöckchen höre, weiß ich, sie wird irgendwie nachkommen. Die Idee, dieses Glöckchen an ihrem Wanderstock zu befestigen, finde ich gut. So habe ich sie nämlich besser unter Kontrolle.
Es geht über Stock und Stein, einen Gebirgspass rauf und dann auf der anderen Seite runter.
Unser Tagesziel erreichen wir am Nachmittag. In der Pilgerherberge werden wir herzlich aufgenommen.
Nette Leute hier, wirklich, die haben offenbar auf den ersten Blick meine Persönlichkeit erkannt und ich bin sogleich der absolute Star.
Es stört mich nicht, mit zehn fremden Leuten in einem 20-Betten-Saal zu schlafen. Das könnte sich allerdings schlagartig ändern, falls die plötzlich alle an fangen zu schnarchen.
Ein herrlicher Tag, dieser erste Wandertag!
All meine Sorgen und Befürchtungen von gestern sind vergessen, als ich Pamplona hinter mir lasse und Richtung Sierra del Perdón ziehe. Die Bäume sind in Frühlingsgrün gehüllt, überall duftet es nach Thymian und in den Dörfern blüht der Flieder.
Es macht so viel Spaß, endlich unterwegs zu sein.
Zunächst geht es über Wiesen und Felder, vorbei am Schloss der Grafen von Guendulain, das dem Zerfall preisgegeben ist. Danach führt der Weg stetig bergauf und ist etwas mühsam, denn die aufgeweichte Erde klebt schwer an meinen Schuhen. Das ist zwar lästig, aber der Blick zurück über die weite Ebene von Pamplona entschädigt mich.
Bevor ich den höchsten Punkt dieser Gegend erreiche, höre ich ein hell tönendes Surren, das von mehreren Windrädern erzeugt wird, die auf dem Plateau stehen. Als Hintergrundmusik harmoniert das Geräusch mit den Skulpturen aus Eisen, die wie Schattenrisse Pilger darstellen und uns den Weg nach Santiago de Compostela weisen. Ich bin beeindruckt und freue mich zugleich, denn der gleichmäßige Klang der Windräder gibt meiner Hochstimmung etwas Gewaltiges, das ich kaum beschreiben kann. Ich bin unterwegs auf einem Weg, den bereits viele Millionen Pilger vor mir gegangen sind. Seit dem Mittelalter schon haben die Menschen ihres Glaubens oder eines Gelübdes wegen diese Wallfahrt unternommen: Menschen aus ganz Europa.
Und nun habe auch ich mich auf den ,camino´ begeben, auf den Weg, auf meinen Weg. Obgleich ich noch nicht weiß, was er mir bringen wird, so weiß ich doch, dass ich gehen muss und das Richtige tue.
Das Wetter wechselt ständig: mal Sonne, mal Wind, und als ich vor der Kirche von Eunate stehe, fängt es an zu regnen. Das kann meine Stimmung jedoch nicht im Geringsten beeinträchtigen, denn ich bin beeindruckt.
Die Kirche ist achteckig, steht mitten in einem Feld und scheint jeder Gefahr zu trotzen, aber nicht mit Strenge, sondern eher mit ihrer großen, runden, fast mütterlichen Form.
Ich genieße es zu laufen.
In Obanos glaube ich meinen Augen nicht zu trauen. An der weiß gestrichenen Mauer eines Hauses ranken sich rote Rosen. Wie gut sie duften und das im April! Bei uns blühen die Rosen erst Mitte Juni, ziemlich genau zum Geburtstag meiner Mutter.
Meine Gedanken schweifen in die Kindheit zurück. Damals bangte ich jedes Mal um die herrlichen roten Kletterrosen, die im Garten meiner Freundin Anita wuchsen. Ob sie rechtzeitig blühen würden? Meistens machten sie das. Und Anitas Mutter drückte mir dann einen großen Strauß in die Hände, damit ich ihn meiner Mutter zum Geburtstag schenken konnte.
Seitdem sind viele Jahre vergangen. Wie mag es meiner Mutter und meinem Vater gehen? Vermutlich sitzen die beiden jetzt beim Abendbrot. Ob sie in diesem Moment über mich sprechen?
Wenn man es genau nimmt, sind es vier Jakobswege, die von Frankreich aus nach Santiago führen.
Während die Nordeuropäer ihre
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