Der Joker
dass mich niemand entdeckt, und lausche.
Die Stimmen aus dem Radio verschwimmen und strecken sich. Worte wie Arme, die schwer auf Ritchies Schultern landen.
Ich stelle mir die Szene in der Küche vor.
Ein Toaster, drumherum Krümel.
Ein mäßig sauberer Herd.
Weißes, angegrautes Plastik.
Die Stühle mit roten Kunststoffpolstern, in die Löcher gebohrt wurden.
Billiger Linoleumfußboden.
Und mittendrin Ritchie.
Ich versuche, mir sein Gesicht in Erinnerung zu rufen, versuche, mir vorzustellen, wie es aussieht, wenn er Radio hört. Ich erinnere mich an den Weihnachtsabend und an Ritchies Worte: »Irgendwie habe ich keine Lust, nach Hause zu gehen, Ed.« Ich sehe seine Augen vor mir, die sich zu mir schleppen, und mir wird klar, dass alles besser wäre, als allein in dieser Küche zu hocken.
Sich Ritchie mit einem gequälten Gesichtsausdruck vorzustellen, ist nicht einfach, weil er immer so gelassen und entspannt wirkt. Aber am Weihnachtsabend habe ich einen
Anflug davon entdeckt und ich rufe mir diesen Moment wieder ins Gedächtnis.
Ebenso wie seine Hände.
Sie liegen auf dem Küchentisch, ineinander verschlungen, bewegen sich sanft, drücken sich nach unten. Sie sind weiß und frustriert. Sie haben nichts zu tun.
Das Licht überschüttet ihn.
Er sitzt fast eine Stunde lang da und das Radio rückt in den Hintergrund, mehr als alles andere. Als ich durch das Fenster schaue, hat er seinen Kopf auf den Küchentisch gelegt und schläft. Das Radio steht neben ihm. Ich gehe weg. Ich kann nicht anders. Ich weiß, dass ich hineingehen sollte, aber lieber nicht heute Abend.
Ich gehe heim, ohne mich umzuschauen.
An den nächsten beiden Abenden spielen wir Karten. Einmal bei Marv und einmal bei mir. Bei mir zu Hause gesellt sich der Türsteher zu uns und legt sich unter den Tisch. Ich streichle ihn mit meinen Füßen und lasse Ritchie den ganzen Abend lang nicht aus den Augen. Am Abend zuvor, als ich wieder vor seinem Haus stand, lief alles wieder genauso ab. Er wachte auf, ging in die Küche und hörte Radio.
Das Hendrix-Tattoo starrt mich an, als Ritchie die Pik-Dame abwirft und mir mein Spiel vermasselt.
»Vielen Dank auch«, sage ich zu ihm.
»Tut mir Leid, Ed.«
Sein ganzes Sein besteht aus diesen einsamen Nächten, aus seinem Erwachen um halb elf am Vormittag, dem Abstecher in die Kneipe um zwölf Uhr mittags und seine Ankunft im Wettbüro um Punkt ein Uhr. Dazu kommen der
regelmäßige Scheck der Sozialhilfe, ein paar Kartenspiele - und das war’s.
An diesem Abend bei mir wird viel gelacht, denn Audrey erzählt von einer Freundin, die in der Stadt auf Jobsuche ist. Sie war bei einer von diesen Arbeitsvermittlungen, die jedem ihrer Klienten einen kleinen Wecker schenken, wenn er eine neue Stelle antritt. Als diese Freundin nun einen Job bekam, ging sie noch am selben Tag zu der Firma, die sie eingestellt hatte, um sich zu bedanken, und vergaß dort den Wecker. Sie ließ ihn auf dem Schreibtisch im Hauptbüro stehen.
Und dort stand nun der Wecker in seinem Kästchen und tickte.
Und tickte.
»Und niemand wollte das Ding anfassen«, erzählt Audrey. »Die dachten, es sei eine Bombe.« Sie wirft eine Karte ab. »Sie haben den Oberboss der Firma gerufen und der hätte sich beinahe in die Hosen gemacht. Wahrscheinlich treibt er’s mit einer der Sekretärinnen und dachte, dass ihm seine Frau auf die Schliche gekommen ist und ihm jetzt eins auswischen will.« Sie macht eine Pause, um die Spannung zu steigern. »Jedenfalls haben sie das ganze Gebäude evakuiert, die Sprengstoffexperten gerufen, die Polizei und die Feuerwehr, und ich weiß nicht, wen noch. Die Sprengstoffleute kamen und haben die Schachtel geöffnet, genau in dem Moment, als der Wecker anfing zu klingeln.« Audrey schüttelt den Kopf. »Sie wurde gefeuert, noch bevor sie überhaupt angefangen hatte...«
Als die Geschichte zu Ende ist, beobachte ich Ritchie.
Ich möchte ihm auf die Pelle rücken.
Ich möchte, dass er sich unbehaglich fühlt, möchte ihn
von dort, wo er sich befindet, wegreißen, möchte ihn in seine Küche setzen, um ein Uhr nachts. Wenn ich das irgendwie erreichen könnte, würde ich vielleicht ein bisschen besser sehen, wie er wirklich aussieht und sich fühlt. Es ist nur eine Frage des richtigen Augenblicks.
Und der kommt etwa eine halbe Stunde später, als Ritchie vorschlägt, dass wir das nächste Mal - in ein paar Tagen - bei ihm zu Hause Karten spielen.
»So gegen acht?«, fragt er.
Wir sind alle
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