Der Joker
ausreichend darüber nachgedacht hast, was du tun sollst.« Seine Stimme klingt gleichmütig, aber gleichzeitig schwingt etwas Schweres mit.
Die Wahrheit , denke ich.
Die Schwere in Daryls Stimme.
Er hat Recht. Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll. Ich stelle nur Vermutungen an und hoffe, dass die Antworten dann ganz von alleine kommen.
Daryl und Keith erheben sich ebenfalls und stehen neben mir unter dem Baum.
Es ist Keith, der die letzte Frage austeilt, zu meiner Linken.
Er füttert mir die Worte mit seiner rauen, sanften, wissenden Stimme ins Ohr.
Nah, ganz nah neben mir, fragt er: »Was machst du überhaupt hier, Ed?« Die Worte treiben näher und näher und kriechen in mein Ohr hinein. »Warum stehst du hier und wartest? Du solltest wissen, was zu tun ist...« Er ruht sich einen Moment aus, bevor er den Deich brechen lässt und sich die letzte Flut an Wörtern in mein Inneres ergießt. »Ritchie ist einer deiner besten Freunde, Ed. Du musst nicht nachdenken , über gar nichts, oder warten oder entscheiden, was zu tun ist. Du weißt es schon, ohne jedes Fragezeichen oder auch nur den Schatten eines Zweifels. Nicht wahr?« Und noch einmal: »Nicht wahr, Ed?«
Ich taumele rückwärts und gleite am Baumstamm hinab zu dem Fleck, auf dem ich vorher gesessen habe.
Die beiden Gestalten bleiben stehen und schauen zum Haus.
Meine Stimme stolpert vorwärts und landet vor ihren Fü ßen auf dem Boden.
Du weißt, was zu tun ist , denke ich.
»Ja«, sage ich. »Ich weiß es.«
Bilder reißen mich auseinander.
Kleine Stücke von mir segeln zu Boden.
Keith und Daryl gehen davon.
»Hurra«, sagt einer von beiden, aber ich weiß nicht, wer.
Ich will aufstehen, ihnen hinterherjagen und sie fragen, sie anbetteln, mir zu sagen, wer hinter allem steht und warum. Aber.
Ich kann nicht.
Alles, wozu ich imstande bin, ist, da zu sitzen und die zerfetzten Stücke dessen aufzusammeln, was ich gerade gesehen habe.
Ich habe Ritchie gesehen.
Ich habe mich selbst gesehen.
Mit dem Baum im Rücken will ich es wagen. Ich versuche aufzustehen, aber mein Magen sackt ab und ich muss mich wieder hinsetzen.
»Tut mir Leid, Ritchie«, flüstere ich, »aber es muss sein.«
Wenn mein Magen eine Farbe wäre , denke ich, wäre er schwarz, wie diese Nacht. Ich reiße mich zusammen und mache mich auf den Heimweg, der mir diesmal endlos lang vorkommt.
Dort angekommen, spüle ich das Geschirr.
Es stapelt sich in der Spüle, und das Letzte, was ich sauber mache, ist ein einfaches, flaches Messer. Das Licht der Küchenlampe spiegelt sich darin und ich erblicke mein eigenes, lauwarmes Gesicht in dem Metall.
Ich bin oval und verzerrt.
An den Rändern abgeschnitten.
Das Letzte, was ich vor mir sehe, sind die Worte, die ich Ritchie gegenüber aussprechen muss. Damit lege ich das Messer ganz oben auf den Haufen gespülten Geschirrs. Es rutscht weg und fällt klappernd zu Boden, dreht sich dort wie ein Kreisel.
Mein Gesicht erscheint dreimal, während das Messer um die eigene Achse wirbelt.
Beim ersten Mal sehe ich Ritchie in meinen Augen.
Beim zweiten Mal Marv.
Und dann Audrey.
Ich hebe es auf und halte es in der Hand.
Am liebsten würde ich dieses Messer aufheben und die Welt damit aufschneiden. Ich würde einen langen Schnitt machen und durch ihn hindurch in die nächste Welt steigen.
Ich liege im Bett und klammere ich mich an den Gedanken.
In meiner Schublade liegen drei Karten. Eine in meiner Hand.
Der Schlaf steht über mir. Sanft drücke ich meine Finger in den Rand des Herz-Asses. Die Karte ist kühl. Und scharfkantig.
Ich höre eine Uhr ticken.
Alles schaut zu. Ungeduldig.
5
Ritchies Sünde
Name: David Sanchez.
Auch bekannt als: Ritchie.
Alter: Zwanzig.
Beruf: Null.
Leistungen: Null.
Pläne: Null.
Wahrscheinlichkeit, dass die letzten drei Punkte jemals anders beantwortet werden: Null.
Als ich das nächste Mal zu Ritchies Haus in der Bridge Street gehe, ist alles dunkel. Ich wäre beinahe wieder gegangen, als das Küchenlicht flackernd zum Leben erwacht.
Es blinzelt ein paarmal, erstirbt wieder, bevor es sich entscheidet zu leuchten.
Eine Silhouette taucht auf und lässt sich am Küchentisch nieder. Es ist Ritchie, ganz sicher. Ich erkenne ihn an den Haaren, an der Art, wie er sich bewegt und sich hinsetzt.
Ich schleiche näher. Er hört Radio. Meistens redet der Moderator, nur ab und zu wird Musik gespielt. Der Klang dringt schwach zu mir nach draußen.
Ich halte mich im Verborgenen, hoffe,
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